Eine Farce von Hindernissen: Rettung, Unterdrückung und Solidarität

Von Barbara Sartore, Mitglied der Crew der Nadir bei Einsatz 06/2024; Fotos: Paula Gaess 

Die sechste Einsatzphase der Nadir für das Jahr 2024 erstreckte sich vom 19. August bis zum 6. September und war durch gutes Wetter und das Ausbleiben starker Winde gekennzeichnet, was die Segelbedingungen zwar erschwerte, für die Abfahrten der Migrant:innen von der libyschen und tunesischen Küste jedoch besonders vorteilhaft war. 

Die Herausforderungen, mit denen die rotierende Besatzung der Nadir konfrontiert war, waren jedoch eher politischer als nautischer Natur. Das italienische Piantedosi-Gesetz, das im Januar 2023 in Kraft trat, schafft weiterhin administrative Hindernisse und Risiken für zivile Schiffe, die im Mittelmeer operieren. Dieses Gesetz, das NGO-Schiffe zwingt, in weit entfernten Häfen auf dem Festland von Bord zu gehen und sie für längere Zeit von den Einsatzgebieten fernzuhalten, führte zu langen Festsetzungen der Geo Barents der Organisation Ärzte ohne Grenzen und der SeaWatch 5. In Verbindung mit sich überschneidenden Crewwechseln und technischen Wartungsarbeiten für andere Such- und Rettungsorganisationen war die Nadir eines der wenigen Schiffe, die zu dieser Zeit im zentralen Mittelmeer aktiv sein konnten. 

Erste Rettungen: Dehydrierung und Hitzeschlag unter der brennenden Augustsonne

Kurz nach Erreichen des Einsatzgebietes am 24. August unterstützten wir zwei Boote mit 21 sowie 50 Personen an Bord, in der maltesischen Such- und Rettungszone. Viele der Passagiere waren bereits seit Tagen auf See, stark geschwächt und dehydriert. Die Boote waren zwei Tage zuvor in Libyen gestartet. In beiden Fällen leisteten wir Ersthilfe, bis die italienische Küstenwache eintraf und sie nach Lampedusa brachte. 

Raft-Boote, Tender im Vordergrund

Wenige Tage später eilten wir nach einem Notruf von dem Aufklärungsflugzeugs Seabird der Organisation Sea-Watch 43 Menschen, in einem weißen Schlauchboot, zu Hilfe – darunter Frauen und kleine Kinder. Das Boot war Stunden zuvor manövrierunfähig in Seenot geraten. Nach Berichten des Flugzeugs war ein Schlauch des Bootes geplatzt und 12 Menschen befanden sich im Wasser. Das Frachtschiff Sider Atlantic war bereits vor Ort und stabilisierte das Boot. Als wir am Notfallort eintrafen, übernahmen wir die Koordination der Rettung. Die Menschen auf dem Schlauchboot waren sehr aufgebracht und verängstigt, vier Personen benötigten aufgrund von Verbrennungen, Hitzschlag und unbehandelten Vorerkrankungen dringend medizinische Hilfe. Unsere Tender-Crew nahm die 43 Personen an Bord, während unsere Ärzt:innen die medizinischen Fälle behandelten. Auf dem Weg zum zugewiesenen und nächsten sicheren Hafen Lampedusa mit 43 Gästen an Bord wurden, war jede Hand gefragt, um die Situation an Bord zu beruhigen und den Menschen Unterstützung zu bieten. 

Kurz darauf wurden wir von AlarmPhone auf ein weiteres Boot in Seenot aufmerksam gemacht, dass sich in der Nähe des Kurses Richtung Lampedusa befand. In Absprache mit der Seenotrettungsleitstelle in Rom (MRCC) suchten und fanden wir die 19 Personen, die um 1.30 Uhr morgens auf einem seeuntüchtigen Boot trieben. Da es in der extremen Dunkelheit schwierig war, Hilfe zu leisten, nahmen wir auch diese Menschen an Bord der Nadir. Am nächsten Nachmittag gingen alle 62 Geretteten sicher in Lampedusa an Land. 

Leere Boote und die dunkle Realität der Pushback-Praktiken

In den folgenden Tagen entdeckten wir mindestens 10 leere Boote auf dem Meer. Viele von ihnen waren nicht gekennzeichnet, was oftmals auf die illegalen Pushback-Praktiken der sogenannten libyschen und tunesischen Küstenwachen hinweist, die an den europäischen Außengrenzen die von der EU finanzierten Wachhunde spielen. Dabei werden Boote von Menschen auf der Flucht auf See abgefangen, gewaltsam an die nordafrikanische Küste zurückgebracht und anschließend unmittelbar in Folterlager verschleppt. Diese Praktiken verstoßen gegen internationales Seerecht, sowie Menschenrechte und verdeutlichen die ständigen Gefahren, denen Menschen auf der Flucht ausgesetzt sind. 

Auch die Crew der Nadir wurde Zeuge eines solchen illegalen Pushbacks. In der Nacht des 29. August wurden wir über das Netzwerk Alarmphone alarmiert und suchten stundenlang in der Dunkelheit nach dem Boot. Nur wenige Stunden, vielleicht sogar Minuten vor unserem Eintreffen hatten die tunesischen Behörden die etwa 70 Menschen jedoch zurückgedrängt. Das Boot war mit zwei massiven Außenbordmotoren ausgestattet und hatte vermutlich kein Benzin mehr. Der unverkennbare Geruch von Benzin und Urin hing noch in der Luft. 

Die Narben der libyschen Foltergefängnisse

In der Nacht vom 30. auf den 31. August trafen wir auf ein auf Glasfaserboot mit 14 Menschen an Bord, darunter auch Minderjährige, das jegliche Orientierung verloren hatte. Die Gruppe, die sich verirrt hatte, wurde von uns mit Rettungswesten ausgestattet und eskortiert, bis ein Boot der Guardia di Finanza eintraf, um die Menschen an Bord zu nehmen. 

Einige Stunden später wurden wir von der Organisation Pilotes Volontaires auf ein Holzboot mit 31 Personen aufmerksam gemacht. Wir machten uns schnell auf den Weg und stellten fest, dass mehr als die Hälfte der Menschen an Bord unbegleitet und minderjährig waren – der Jüngste gerade einmal 14 Jahre alt. Sie waren einen Tag zuvor aus Libyen aufgebrochen, aber als wir auf sie trafen, war ihr Boot bereits manövrierunfähig. Da die sogenannte libysche Küstenwache am Horizont zu sehen war, entschieden wir uns, die Menschen an Bord zu nehmen, um sie vor einem möglichen illegalen Pushback zu schützen. An Bord erzählten die jungen Männer ihre Geschichten aus Libyen, von den Folterlagern und den Narben, die sie davongetragen haben. „Die Behörden haben uns ausgebeutet, geschlagen, eingesperrt und getötet“, berichtete ein 16-Jähriger, der bereits dreimal in libyschen Gefängnissen saß. Erst 15 Tage vor seiner Flucht über das Mittelmeer konnte er das letzte Mal entkommen. Es macht uns sprachlos und wütend, dass diese jungen Menschen so traumatische und brutale Erfahrungen machen mussten. Da es keine sicheren und legalen Fluchtwege gibt, wird ihnen keine andere Wahl gelassen, als ihr Leben zu riskieren. 

40 Menschen über Bord: Eine schwierige Rettungsaktion im Dunkeln

Kerzen zum Gedenken an auf der Flucht gestorbene Menschen

Am 1. September trafen wir auf ein kleines, überfülltes Holzboot mit 61 Menschen an Bord, das seit zwei Tagen auf dem Meer trieb. Die dehydrierten und seekranken Passagiere wurden von uns mit Schwimmwesten und Wasser versorgt und betreut, bis die italienische Küstenwache eintraf, um sie in Sicherheit zu bringen. 

Kurz darauf, als die Sonne unterging, meldete Seabird einen Seenotfall in der maltesischen Such- und Rettungszone. Wir änderten den Kurs und begannen mit der Suche. Gegen Mitternacht des 4. September fanden wir das überfüllte Doppeldecker-Glasfaserboot mit nicht funktionsfähigem Motor und etwa 120 Menschen an Bord. Völlige Dunkelheit, starker Seegang und ein mit 30 Personen befülltes Unterdeck, die möglicherweise unter Sauerstoffmangel litten, erschwerten die Einschätzung des tatsächlichen Zustandes des Bootes. Die Kommunikation erwies sich als schwierig, da die Menschen verängstigt und aufgewühlt waren. 

Unsere Tendercrew versorgte sie schnell mit Schwimmwesten und evakuierte etwa 50 Personen vom Oberdeck des Glasfaserboots auf die Nadir, um den Menschen im Unterdeck genügend Platz zum Rauskommen zu verschaffen. Unter den Menschen, die auf die Nadir gebracht wurden, befanden sich extrem geschwächte Personen, die tagelang der Hitze des Mittelmeers ausgesetzt waren, kaum etwas zu trinken hatten und sich nicht bewegen konnten; einige von ihnen mussten von unserem medizinischen Team behandelt werden.  

Die italienische Küstenwache traf gegen 3.15 Uhr morgens ein, nachdem wir uns um die dringendsten Fälle gekümmert und sichergestellt hatten, dass sich niemand mehr im Unterdeck befand. Als die Küstenwache begann, die verbliebenen Personen vom nahe gelegenen Glasfaserboot an Bord zu holen, sprangen mehr als 40 Personen ins Wasser.  

Unsere Tendercrew reagierte schnell und brachte Rettungsmittel und Rettungsinseln. Innerhalb von Sekunden waren die Menschen über ein weites Feld verstreut, da die hohen Wellen sie auseinandertrieben. Während unsere Tenderbesatzung die meisten Menschen aus dem Wasser zog, schwammen einige direkt zur Nadir und wurden von unserer Crew an Bord gezogen. Über eine Stunde lang arbeiteten wir unermüdlich in der Dunkelheit, um alle zu retten. Auch die Menschen, die wir zuvor an Bord genommen hatten, packten mit an, nahmen die Überlebenden auf, schafften Platz für die Geschwächten und halfen, wo sie konnten. Nicht wenige der Überlebenden brachen an Bord zusammen, erschüttert vom Schock und der Angst.   

Auch nachdem die Küstenwache aufgebrochen war, um die 120 Menschen nach Lampedusa in Sicherheit zu bringen, suchten wir das Gebiet mehrmals ab, um sicher zu gehen, dass niemand zurückgelassen wurde. Wir können nur hoffen, dass wir in dieser Nacht alle gefunden haben – was uns erneut vor Augen führt, wie entscheidend Sekunden sein können. Dass die Flucht über das Mittelmeer tödlich ist, ist kein Geheimnis. Und doch entscheiden sich die EU-Länder täglich für eine Abschottungspolitik, die diese Fluchtrouten immer gefährlicher macht. 

Zusammenarbeit mit unseren Partner:innen 

Auch während der sechsten Einsatzphase haben wirwertvolle Unterstützung von unseren Partner:innen erhalten. Die meisten der in Seenot geratenen Boote wären ohne die Hilfe des Netzwerkes Alarmphone oder der Flugteams von Pilotes Volontaires und Seabird nicht gefunden worden. Die auf Lampedusa ansässigen Vereine Maldusa und Mediterranean Hope halfen den Menschen, die italienisches Festland erreichten und machen somit einen wertvollen Unterschied für die Ankommenden Menschen in der EU. 

Während der Zeit auf See hatten wir die Möglichkeit die Drone, entwickelt von der Non-Profit-Organisation SearchWing, einzusetzten . Diese ist mit einer KI-basierten Software ausgestattet, die in der Lage ist, bootsähnliche Objekte im Meer zu erkennen. Die Drohne fliegt 550 Meter über dem Meer und deckt ein Gebiet von bis zu 160 Quadratkilometern ab. Damit erweitert sie die Suchmöglichkeiten der Nadir über ihren begrenzten Bereich hinaus, der von der Schiffsbrücke aus überwacht werden kann. 

 Wir bleiben hier! 

Als der Einsatz sich seinem Ende neigte, blieb ein Nachgeschmack des breiteren Kontextes der Mittelmeerkrise spürbar. Die Abkommen zwischen der Europäischen Union und Libyen, Tunesien und Ägypten sowie die Festsetzung von SAR-Schiffen sind Teil einer größeren politischen Landschaft, die Menschenleben in Gefahr bringt. 

Nach Angaben des Missing Migrant Project der IOM hat das Massensterben im Mittelmeer vor wenigen Wochen sein 30.000 Opfer gefordert. Die Dunkelziffer wird jedoch weitaus höher geschätzt. In einer Welt, in der Grenzen offenbar mehr zählen als der Schutz von Menschenleben, wird sich Nadir weiterhin für Menschen einsetzen, die vor Gefahr und Verfolgung flüchten. Denn Menschlichkeit muss gewinnen. 

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