Die Verständnislosigkeit und die Wut darüber, wie so etwas in einem der am stärksten überwachten Seegebiete passieren kann, begleitete uns auf unserem Weg ins Einsatzgebiet im zentralen Mittelmeer. Doch wir waren motivierter denn je. Motiviert, Menschen in Notlagen zu unterstützen. Motiviert, einen Unterschied zu machen.
Am Mittag des 16. Augusts wurde die Crew der NADIR vom Aufklärungsflugzeug Seabird 2 kontaktiert. Unsere Verbündeten von Sea-Watch machten uns auf Menschen in Seenot auf einem Glasfaserboot aufmerksam. Tief in der maltesischen SAR-Zone, nördlich von Sabrata in Libyen und östlich von Sfax in Tunesien.
Schnell wurde klar, dass wir nicht die einzigen waren, die nach dem Boot suchten – wohl aber die einzigen mit humanitären Absichten. Denn auch die sogenannte libysche Küstenwache näherte sich dem vermuteten Ort des Seenotfalls. Wir befürchteten einen illegalen Pullback und dass die Menschen also zurück in ein Land gebracht würden, in dem bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen und ihnen Inhaftierung, Zwangsarbeit, physische Gewalt und Folter drohen.
Als wir die zwölf Menschen auf dem kleinen Boot erreichten, trieb es mit ausgefallenem Motor in hohen Wellen. Schnell konnten wir Rettungswesten verteilen und die Lage stabilisieren. Wie knapp wir den libyschen Milizen zuvorgekommen waren, wurde uns bewusst, als nur wenige Minuten nach unserer Ankunft ein Boot der sogenannten libyschen Küstenwache bis auf wenige hundert Meter an uns heranfuhr. Die beim Anblick des grauen Schnellboots aufkommende Panik der Überlebenden legte sich, nachdem wir Ihnen versichert hatten, dass wir nicht mit libyschen Akteuren kooperierten.
Das noch immer über uns kreisende Aufklärungsflugzeug machte uns wenig später auf ein zweites, sich uns mit hoher Geschwindigkeit nähernden Schiff der libyschen Milizen aufmerksam, welches wir kurz darauf selbst am Horizont entdeckten. Minuten des Abwägens der Situation folgten, bis sie sich irgendwann von selbst löste und die ›Verfolgenden‹ den Rückzug antraten. Unklar ist, was das libysche Schiff schließlich zur Umkehr bewegt hatte, doch als wir – etwa eine Woche später – vom Beschuss der OCEAN VIKING durch libysche Milizen erfuhren, waren wir nachträglich sehr froh, dass es nicht zu einer Konfrontation aus nächster Nähe gekommen war.
Nach der Versorgung mit Wasser, Nahrung und Medikamenten gegen Seekrankheit machte sich die Crew der NADIR mit den Menschen im Glasfaserboot auf den Weg in Richtung Lampedusa, dem nächstgelegenen sicheren Hafen. Um die Sicherheit der Menschen bei der Überfahrt bei Tag und auch bei Nacht zu gewährleisten, war stets unser Beiboot im Einsatz. In der Dunkelheit, etwa eine Seemeile innerhalb italienischer Hoheitsgewässer, konnten die Menschen schließlich sicher auf ein Boot der italienischen Küstenwache übersteigen. Um den Bericht über den Seenotfall persönlich abzugeben, wurde die NADIR mit ihrer Crew ebenfalls nach Lampedusa beordert.

FÜR DREI SCHWESTERN KOMMT JEDE HILFE ZU SPÄT
Am Morgen danach machte sich die Crew an Bord der NADIR erneut auf den Weg ins Einsatzgebiet. Die folgenden Tage auf See waren geprägt von schwierigen Bedingungen. Es herrschte eine unruhige Kreuzsee mit teils hohen Wellen, gepaart mit einer verdächtigen Stille. Nur vereinzelt gingen Meldungen über Seenotfälle bei uns ein, jedoch so weit entfernt, dass die NADIR keine Unterstützung leisten konnte. Uns wurde die schiere Größe des Mittelmeers umso deutlicher vor Augen geführt.
Am Freitag, den 22.8.2025, wurde die immer lauter werdende Stille von einem Notruf von Alarm Phone – Watch the Med durchbrochen. Etwa 50 Personen an Bord eines grünen Schlauchboots befänden sich in Seenot, gerade außerhalb libyscher Hoheitsgewässer. Einige davon Frauen. Viele Kinder. Die Lage sei kritisch. Wir machten uns auf den Weg zur letzten bekannten Position.
In der Dämmerung startete eine stundenlang andauernde Suche, die erst um zwei Uhr morgens ihr Ende finden sollte. Im Schein des Mondes und zweier Flammen einer weit entfernten Ölplattform suchten wir nach Indizien für das grüne Boot. Ausgestattet mit Suchscheinwerfern und Ferngläsern waren wir auf der Suche nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen. Je länger die Suche dauerte, desto größer wurde unsere Sorge, sie nicht zu finden. Bis wir schließlich ein schwaches Lichtsignal am Horizont entdeckten.
Mit kleiner werdender Distanz zum angepeilten Objekt nahmen wir einen immer stärker werdenden Geruch von Benzin wahr. Schließlich auch Schreie. Von Männern. Von Frauen. Und von Kindern. Bis wir es schließlich mit den eigenen Augen sahen: Das völlig überfüllte, in den Wellen hilflos umherschaukelnde grüne Schlauchboot. Schnell wurde klar, dass wir handeln mussten – und zwar sofort.
Das Schlauchboot war am Vortag in Zuwara, Libyen, mit insgesamt 72 Personen gestartet und hatte bereits wenige Stunden nach der Abfahrt mit eindringendem Wasser zu kämpfen. Die Versuche der Menschen, es auszuschöpfen, blieben erfolglos, sodass viele knietief in einem ätzenden Gemisch aus Salzwasser und ausgelaufenem Benzin ausharren mussten. Unter ihnen zahlreiche Frauen, drei von ihnen schwanger, mehrere Kinder und auch ein sieben Monate altes Baby. Unter schwierigen Bedingungen folgten die Abläufe, die wir zuvor oft trainiert und besprochen hatten: Aufklärung der Menschen über das nun folgende Vorgehen in diversen Sprachen, Ausstattung aller Menschen mit Rettungswesten, vorrangige Bergung der Babys und Kleinkinder mithilfe unseres Beiboots und schließlich der Überstieg aller vom Schlauchboot auf die NADIR.
Der letzte Schritt der Evakuierung war in vollem Gange, als wir plötzlich Schreie in der eigentlich beruhigten Situation vernahmen. Eine Person zeigte in das mit Wasser vollgelaufene, bereits zu zwei Dritteln geleerte Schlauchboot. Menschen befänden sich unter dem Wasserspiegel des vollgelaufenen Bootes. bzeichnete. In dem überfüllten Boot waren, bei Dunkelheit und hohem Seegang, drei Kinder unbemerkt ertrunken. Bei den Überlebenden breitete sich Entsetzen aus. Unser medizinisches Team versuchte vergeblich, die Mädchen zu reanimieren. Für die drei Schwestern im Alter von neun, elf und 17 Jahren kam jede Hilfe zu spät. Sie waren bereits seit geraumer Zeit nicht mehr am Leben. Den Aussagen der Überlebenden zufolge war zudem bereits Stunden zuvor eine Person über Bord gefallen und nicht mehr wiedergefunden worden.

Am Samstagnachmittag, kurz nach dem Erreichen italienischer Gewässer, konnten 14 Menschen aufgrund ihres kritischen Gesundheitszustandes auf ein Schiff der italienischen Küstenwache evakuiert werden. Wenige Stunden später erreichte die NADIR mit den verbliebenen 54 Überlebenden und den drei Verstorbenen Lampedusa und wurde von einem Großaufgebot von Behörden, Presse und humanitär engagierten Verbündeten in der Dunkelheit erwartet. Wir stellten sicher, dass die Überlebenden koordiniert von der NADIR an Land gehen konnten, und wünschten ihnen alles Gute auf ihrer weiteren Reise, die hier vermutlich noch lange nicht vorbei gewesen sein wird.
Einen Tag später nahmen wir uns gemeinsam mit einigen weiteren Personen, die von dem schweren Schicksalsschlag der Familie getroffen waren, einen Moment der Stille. Wir entzündeten Kerzen und hielten inne, um mit unseren Gedanken bei den Schwestern und ihren Angehörigen zu sein, die diesen vermeidbaren Verlust und Schmerz nun tragen müssen.

DIE ITALIENISCHE KÜSTENWACHE NIMMT UNSERE HILFE IN ANSPRUCH
Die Zeit auf Lampedusa war geprägt von Gesprächen mit den italienischen Behörden, allerlei Formalitäten und dem Klarmachen des Schiffs, um erneut aufzubrechen – für den Zweck, der uns alle an diesen Ort gebracht hatte. So stachen wir am Montagabend, den 25.8.2025, erneut in See. Dass wir weniger als 24 Stunden später den Befehl bekommen würden, erneut nach Lampedusa zurückzukehren, ahnten wir noch nicht.
Über Nacht kehrten wir zurück ins Einsatzgebiet unweit der Kerkennah Inseln in internationalen Gewässern. Am darauffolgenden Morgen empfingen wir über Funk ein Mayday-Relay eines tunesischen Fischerbootes, das ein überfülltes Holzboot mit mehreren Decks und rund 130 Personen meldete. Sowohl die NADIR als auch die ASTRAL der Organisation Open Arms befanden sich unweit der gemeldeten Koordinaten und nahmen Kurs. Die ASTRAL erreichte den Ort des Seenotfalls als Erstes. Wir blieben auf Stand-by und boten unsere Unterstützung für den Bedarfsfall an, als die ASTRAL uns auf einen zweiten Seenotfall in unmittelbarer Nähe aufmerksam machte.
Mit dem Beiboot voraus nahmen wir Kurs auf ein etwa vier Seemeilen entferntes Schlauchboot, auf dem 58 Personen, darunter einige Kleinkinder, ausharrten. Sie waren bereits seit drei Tagen auf dem Wasser und dementsprechend dehydriert. Schnell konnten wir Rettungswesten bereitstellen und die Lage stabilisieren. Kurz darauf traf bereits ein Schiff der italienischen Küstenwache ein. Nachdem diese die Lage sondiert hatte, bat sie unsere Crew um Hilfe. Mit unserem Beiboot sollten Kinder und verletzte Personen vom Schlauchboot auf das Boot der Küstenwache übergeben werden. Mit gemeinsamen Kräften gelang dies ohne Probleme. Anschließend wurde das Schlauchboot mit den verbliebenen Personen mithilfe unseres Beiboots seitlich am Schiff der Küstenwache fixiert, sodass alle sicher übersteigen konnten.
Obwohl die italienische Behörden die Rettung und Evakuierung koordiniert hatten, wurde der NADIR anschließend von übergeordneten Stellen befohlen, einen Sonderbericht zu diesem Vorfall persönlich nach Lampedusa zu überbringen. Darüber, dass dies unnötige Wege für die Überbringung eines wenige Seiten langen Formulars bedeutete, gibt es bei logischem Menschenverstand keine zwei Meinungen. Die Order bedeutet eine mutwillige Behinderung unseres Einsatzes durch bürokratische Banalitäten. Diesen sehen uns nicht nur wir, sondern auch viele andere humanitäre NGOs ausgesetzt.
Auch nach unserem dritten Besuch auf Lampedusa begaben wir uns erneut ins Einsatzgebiet, bevor unser Einsatz offiziell endete. Nach der Rückkehr in unseren Heimathafen bereiteten wir alles für die Übergabe der NADIR an die achte Crew im Jahr 2025 vor. Eine nervenaufreibende, aber auch erfüllende Zeit ging zu Ende.

Am Ende unseres Einsatzes können wir auf Begegnungen mit über 140 Personen zurückblicken, die wir auf ihrem Weg unterstützen konnten. Bei der Freude über jede einzelne Person, der wir helfen konnten, müssen wir auch den Tod dreier viel zu junger Menschen betrauern, die es nicht geschafft haben und deren Verlust die Angehörigen den Rest ihres Lebens begleiten wird. Wir müssen uns bewusst machen, dass hinter jeder Zahl ein einzelnes Schicksal steht. Und dass die Vorfälle während unseres knapp dreiwöchigen Einsatzes auf See nur ein kleiner Ausschnitt sind. Seit mehr als einem Jahrzehnt wiederholen sie sich immer und immer wieder. Wir bleiben dabei. Wir bleiben solidarisch. Wir bleiben dort, wo wir gebraucht werden, um einen Unterschied zu machen.
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