Medizinische Hilfe auf der NADIR: Zwischen Wellengang, Erschöpfung und Verantwortung für Menschenleben

Newsletter vom 04 Oktober 2025: 

Heute möchten wir den Newsletter nutzen, um unsere Aufmerksamkeit auf diejenigen zu lenken, die in den letzten zwei Jahren über  950 Menschen medizinisch betreut und behandelt haben: das Ärzt:innen-Team auf der NADIR. 

Doch wie erlebt man eigentlich einen Einsatz, als Ärztin auf der NADIR, an Bord eines Such- und Beobachtungsschiffs? Welche Herausforderungen, aber auch besonderen Momente bringt diese Aufgabe zwischen Wellengang, Erschöpfung und der Verantwortung für Menschenleben mit sich? 

medizinische Untersuchung einer Hand an Bord auf Rettungsdecke

Dr. Rachel Austin, Notärztin aus London, berichtet von einem ihrer Einsätze:
Stell dir die Szene vor: Es ist mitten in der Nacht, und die NADIR stößt auf ein überfülltes Schlauchboot, halb voll mit Wasser; die Menschen sitzen gefährlich auf den sich entlüftenden Schwimmkörpern. Der Wind heult, die Wellen schlagen hoch; einige der Menschen an Bord sprechen Französisch, doch bei diesem Wetter ist es schwer, einander zu verstehen.
Die Menschen berichten, dass eine Frau krank sei – unsere starken Suchscheinwerfer beleuchten müde Gesichter auf dem Schlauchboot, doch es ist kaum auszumachen, von wem sie sprechen.

Genau das ist eine der großen Herausforderungen als Ärztin an Bord: Wie kann man unter solchen Bedingungen mögliche Patient:innen einschätzen? Ist jemand ernsthaft krank? Und wenn ja, wie können wir uns ihr nähern, sie behandeln, ohne das Schlauchboot zum Kentern zu bringen und damit noch mehr Leben zu gefährden?

Das Schlauchboot droht zu sinken. Wir müssen alle Menschen an Bord nehmen. Irgendwie sind 65 Menschen in dieses winzige Boot gezwängt. Sie sind bereits seit drei Tagen auf See, der letzte ohne Nahrung und Trinkwasser. Bei der ersten Triage finden wir mehrere dehydrierte Kinder und Babys, eine schwangere Frau mit Bauchschmerzen. Ein Großteil hat schwere Treibstoffverbrennungen erlitten. Wenn Benzin sich mit Salzwasser vermischt, entsteht eine ätzende Flüssigkeit, die die Haut angreift und oft bis in tiefere Schichten vordringt. Die Menschen sitzen tagelang darin, sodass am häufigsten Beine, Gesäß und Genitalien betroffen sind. Die Verbrennungen sind oft ausgedehnt und tief, nicht selten über mehr als 15 % der Körperoberfläche. Besonders Frauen und Kinder trifft es hart, da sie meist im Inneren des Bootes sitzen, wo es vermeintlich ›sicherer‹ ist.

Der erste Schritt bei der Behandlung ist, das Benzin abzuwaschen. Mein Kollege und ich müssen die Fälle triagieren, entscheiden, wer als Erstes Zugang zu den drei Duschen an Bord bekommt, bevor wir die Wunden reinigen und mit speziellen Verbänden versorgen. Meine Aufmerksamkeit ist gleichzeitig in alle Richtungen gefordert – ich muss die schwangere Frau und die dehydrierten Kinder untersuchen und behandeln, Verbrennungen versorgen und gleichzeitig entscheiden, ob jemand so schwer krank ist, dass wir eine dringende medizinische Evakuierung an Land beantragen müssen. Der Salon, in dem ich diese Aufgaben erledigen muss, ist mit einer überwältigenden Menschenmenge überfüllt und gleicht einem Hindernisparcours aus schlafenden Frauen, krabbelnden Babys und Crewmitgliedern. Trotz offenerFenster ist es stickig wie in einer Sauna. Eine Windböe reißt mir den Verband weg, an dem ich gerade arbeite. So etwas passiert in meinem Krankenhaus in London nicht. Ich versuche, eine Kanüle zu legen, doch das Boot schlägt in eine Welle, ich steche daneben und muss mich entschuldigen. Ich sehe immer wieder Warnsignale: Könnte diese Person ein Opfer von Menschenhandel sein? Wir haben so viele Menschen mit Verbrennungen an Bord, dass ich fürchte, uns gehen die Verbände aus. Der Salon, das Krankenhaus auf der NADIR, riecht nach Benzin und Erbrochenem, und ich habe seit 24 Stunden nicht geschlafen. Habe ich vielleicht einen ernsten Fall übersehen? Wir sind noch 20 Stunden vom Land entfernt.

Es ist schwer, die Erfahrung als Ärztin auf der NADIR vollständig zu beschreiben: Für jede medizinische Eventualität vorbereitet zu sein – an so einem abgelegenen Ort, unter solch extremen Bedingungen. Gleichzeitig bin ich immer wieder überwältigt von der Stärke und Widerstandskraft der Menschen, denen wir begegnen und die so extreme Gefahren und Entbehrungen ertragen haben. Diese 65 Männer, Frauen und Kinder sicher an Land zu bringen und ihnen Versorgung, medizinische Hilfe und Würde zu geben, ist ein Privileg.
Rachel Austin

Dr. James Watson war der behandelnde Arzt im Einsatz vor der ersten Festsetzung der Nadir.  

Er erinnert sich an diese Tage im Hafen von Lampedusa – festgesetzt, während gleichzeitig unaufhörlich Notrufe über Funk empfangen wurden. James beschreibt die Situation so: 

Die Zeit während der Festsetzung war unerträglich. Es ist, als gäbe es eine unsichtbare Mauer. Man hört von diesen Fällen durch den Funkverkehr, die wirklich erschütternd sind, man hört es in den Stimmen der Menschen, die davon berichten. Jeder dieser Fälle ist wirklich beängstigend und betrifft Menschen, deren Leben in Gefahr ist. Und dann sitzt man einfach nur da und kann nichts dagegen tun. Die Verantwortung dafür tragen nicht die Seenotretter:innen, sondern die europäischen Regierungen und ihre Abschottungspolitik. Für Ärzt:innen ist klar: Wir haben einen Eid geleistet zu helfen – und doch hindert uns die europäische Politik immer wieder genau daran. 
-James Watson 

Möchtest Du unserem medizinischen Team helfen, Menschen in Seenot zu versorgen? 

Rachel, James und alle medizinischen Fachkräfte arbeiten ehrenamtlich an Bord der NADIR und versorgen in Seenot aufgefundene Menschen, die meist an Seekrankheit, Dehydrierung, Verletzungen und vor allem chemischen Verbrennungen leiden. Durch die für diese humanitäre Ersthilfe benötigten medizinischen Mittel und Verbrauchsmaterialien entstehen uns Kosten im Rahmen unserer Einsätze.  

Du kannst uns hier konkret unterstützen: Mit einer Spende von nur 50 €können wir die aus Spülungen, Salben, Schmerzmitteln und Spezialverbänden bestehende Behandlung einer erwachsenen Person mit schweren Benzin-Salzwasser-Verbrennungen finanzieren. 

Gerade in diesen Zeiten brauchen wir finanzielle Unterstützung. Jede Spende hilft uns, Menschen helfen zu können. Es ist Dir sogar möglich, uns regelmäßig zu unterstützen? Werde Fördermitglied und bleibe nah dran an unserer Vereinsarbeit. 
Du bist neugierig geworden und möchtest mehr über unsere medizinischen Einsätze erfahren? 

Presseschau und Podcasts 
Hier findest du weitere Berichte unserer Ärzt:innen und Sanitäter:innen – zum Lesen und Anhören: 

In Solidarität und Widerstand 
Rachel und James | Medics RESQSHIP e. V. 

Grafik Gerettete Menschen der Nadir - Oktober

Veranstaltungshinweise: 

Zivile Seenotrettung im zentralen Mittelmeer 
Info-Event mit einer Vorführung des Films “The Tunisian Corridor. A three-week journal” 
Datum: 9. Oktober 2025, Einlass 18:30 Uhr
 
Ort: Kartenraum des Peter-Weiss-Hauses, Doberaner Str. 21, 18057 Rostock 
Es wird ein RESQSHIP-Aktiver anwesend sein. 

Gesprächsabend 
Veranstaltung mit Mitgründer, Vorstandsmitglied und Skipper der NADIR, Ingo Werth und Hansjürgen Menzel-Prachner, Vorsitzender des Ida-Ehre-Kulturvereins 
Datum: 9. Oktober 2025, 18:30 Uhr
 
Ort: Der Hafen hilft! – Zentrum für Soziallogistik, Schnackenburgallee 11, 22525 Hamburg 
Im Anschluss wird es Raum für Fragen, Austausch und Gespräch geben.  

Fotocredits: Barbara Satore, Valentin Ricaud  | RESQSHIP e. V.

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