Fast 500 Menschen aus zwölf Booten sicher geborgen

von Andrea Finkel, Crew-Mitglied auf der Nadir auf Mission 3/2023 (Mai/Juni):  

Auf der dritten Beobachtungsmission in diesem Jahr fand die Crew der Nadir zwölf Boote in Seenot – mit insgesamt etwa 490 Menschen an Bord. 22 davon brachten wir selbst nach Lampedusa, die anderen haben wir erstversorgt und begleitet. Sie wurden später von der italienischen Küstenwache abgeborgen. In zwei Einsätzen mussten wir Menschen an Bord nehmen, um sie medizinisch versorgen zu können, in einem Fall war die Notevakuierung einer Hochschwangeren erforderlich.

55 Menschen müssen zurück nach Tunesien

Die erste Woche unserer SAR-Reise war geprägt von starkem Wind und hohen Wellen – und einem ersten Einsatz, bei dem wir den Menschen in Not leider nicht helfen konnten: Am Dienstag, den 23. Mai, hatte ein tunesisches Fischerboot in der maltesischen Such- und Rettungszone (SAR) 55 Menschen aus einem gesunkenen Stahlboot an Bord genommen und um Hilfe gebeten – eine Übernahme der 30 Erwachsenen und 25 Kinder vom Fischerboot auf die Nadir wäre nur mit Einverständnis der zuständigen Behörden möglich gewesen. Italien verwies an Malta, doch von dort zunächst wie immer Schweigen. Die Situation auf dem Fischerboot spitzte sich zu: Ein sechs Monate altes Baby sei schwerkrank und bräuchte dringend medizinische Hilfe. Dazu verschlechterte sich das Wetter, und der Fischer wollte zurück nach Tunesien. Er hatte sich bereits auf den Weg gemacht, als wir Stunden später telefonisch von Malta eine Zusage für die medizinische Evakuierung des Babys und seiner Mutter erhielten. Doch der Fischer wollte nicht mehr umkehren, wenn nicht alle Menschen übernommen werden würden. Bei mittlerweile 20 Knoten Wind wollte er zudem schnell nach Hause. Für die 55 Menschen bei ihm an Bord hieß das: Rückkehr nach Tunesien, aus dem sie zuletzt geflohen waren. Mit verbitterten Gefühlen machten auch wir uns auf den Weg in eine geschützte Bucht vor Lampedusa, um dort die nächsten Tage abzuwettern.

Resqship-Nadir_Mission3-Fischerboot

Fischer melden Seenotfälle

Als wir in der zweiten Woche wieder im Einsatzgebiet unterwegs sind, geht es Schlag auf Schlag: Am Sonntag, den 28. Mai, hören wir schon frühmorgens zahlreiche Notrufe von Fischern, die Boote in Seenot melden, und finden bald darauf ein Holzboot mit 55 Menschen an Bord, darunter drei Kinder und mehrere unbegleitete Minderjährige. Die Menschen stammen aus Eritrea, Pakistan und Ägypten und waren zwei Tage zuvor aus Libyen aufgebrochen. Wir verteilen Rettungswesten und es gelingt, den Motor des Bootes wieder zu starten, sodass wir das Boot in Richtung Lampedusa begleiten können. Gegen Mittag kommt ein Schiff der Guardia di Finanza und will zunächst das Boot begleiten. Die Insassen sind verunsichert, keiner will das Boot steuern. Sie wissen um die Kriminalisierung von Bootsfahrern. Die Guardia di Finanza (GdF) möchte daraufhin einen der Insassen als Fahrer bestimmen, doch als einer der Beamten den Motor wieder starten möchte, entdeckt er ein Benzinleck, woraufhin die Menschen doch vom GdF-Schiff an Bord genommen werden, um sie sicher nach Lampedusa zu bringen.

Resqship-Nadir_Mission3-GDF-leeresBoot

Wir fahren daraufhin zu weiteren von Fischern gemeldeten Positionen, finden jedoch nur zwei leere Boote – vermutlich wurden sie von der italienischen Küstenwache abgeborgen, denn wir sahen mehrere ihrer Schiffe in der Ferne. Am späten Abend finden wir ein Stahlboot mit 36 Menschen an Bord, davon 3 Kinder. Da ein italienisches Küstenwachschiff noch in der Nähe ist, funken wir es an und es kommt noch, bevor wir Rettungswesten verteilen können, um die Menschen zu übernehmen. Bei der Anfahrt sehen wir, dass sich auf dem Küstenwachschiff bereits ca. 100 Gerettete dicht an dicht drängen – vermutlich die Insassen der beiden leeren Boote, die wir zuvor gesichtet haben.

Resqship-Nadir_Mission3_Stahlboot-nachts

22 Menschen nach Lampedusa gebracht

Am Montag, den 29. Mai, finden wir am Nachmittag – wieder durch einen per Funk von Fischern gemeldeten Notruf – ein Stahlboot mit 22 Menschen an Bord, davon drei Kinder (2, 5 und 8 Jahre) und zwei Frauen. Zwölf der Insassen sind unbegleitete Minderjährige. Sie stammen aus Guinea, Südsudan, Mali und der Elfenbeinküste und waren aus Tunesien aufgebrochen. Zunächst wollen wir das Boot begleiten, doch Wind und Wellen nehmen schnell zu und die Gefahr, dass hineinschwappendes Wasser das Boot zum Sinken bringt, ist groß. Durch die hohen Wellen war das Boot zudem nicht mehr steuerbar. Deshalb nehmen wir die Menschen an Bord der Nadir und bekommen von den Behörden Lampedusa als sicheren Hafen zugewiesen. Die Fahrt dorthin dauert acht Stunden, der Wind nimmt auf dem Weg zu auf 20 bis 25 Knoten – unsere Gäste auf dem Vordeck werden von den Wellen nass gespritzt, einige sind seekrank, wir versorgen sie mit Rettungsdecken gegen die Kälte und mit warmem Essen. Gegen Mitternacht können sie in Lampedusa sicher an Land gehen.

Resqship-Nadir_Mission3-Case3_Annäherung_Stahlboot
Resqship-Nadir_Mission3-Case3_NAdir-Stahlboot
Resqship-Rettungseinsatz-Gäste-Nadir

Fünf Boote an einem Tag – mehrstündige Rettungsaktion in der Nacht

Nach dem üblichen Desinfektions-Prozedere fahren wir am Mittwoch, den 31. Mai, wieder ins Einsatzgebiet und entdecken gegen Mittag beim Ausschauhalten ein Stahlboot mit 37 Menschen an Bord, davon drei Minderjährige, überwiegend aus Burkina Faso. Sie waren am Abend zuvor aus Tunesien aufgebrochen und mussten ständig Wasser schöpfen, das durch die Wellen in das Boot spritzte. Wir begleiteten das Boot mehr als vier Stunden in Richtung italienische SAR-Zone, bis ein Schiff der Guardia di Finanza kam und die Menschen aus dem Stahlboot evakuierte.

Resqship-Nadir_Mission3-Case4_Stahlboot-Schöpfen

Kurz darauf waren wir schon unterwegs zum nächsten von einem Fischer gemeldeten Seenotfall und fanden das völlig überfüllte Stahlboot mit 45 Menschen an Bord gegen 22 Uhr. Es war akut vom Kentern bzw. Sinken bedroht, und um Rettungswesten verteilen zu können, mussten wir es entlasten. So brachten wir 31 Menschen in unsere beiden Rafts, die wir an der Nadir befestigten, und die übrigen Insassen bekamen Rettungswesten. Unsere Beiboot-Crew erhielt vom Fischer den Hinweis auf weitere Boote in Seenot in der näheren Umgebung und fand im Umkreis von weniger als einer Meile noch drei Stahlboote mit jeweils knapp 40 Menschen an Bord. In einem waren auch zwei Schwangere und mehrere Kinder. Sie waren alle unterkühlt und stark dehydriert. Eine der Schwangeren hatte große Angst, ihr Baby zu verlieren. Wir nahmen sieben Frauen (davon vier Schwangere), vier Kinder (im Alter von ein bis neun Jahren) und einen Vater zu uns an Bord, um sie medizinisch versorgen zu können. Wir versorgten alle in den Stahlbooten verbliebenen Menschen mit Rettungswesten. Gegen 2:30 Uhr morgens kam ein italienisches Küstenwachschiff, auf dem bereits etwa 70 Gerettete waren. Doch sie übernahmen trotzdem alle rund 160 Menschen aus den vier Booten, unseren Rafts und von der Nadir. Später, als bereits alle bis auf ein Boot abgeborgen waren, kam noch ein weiteres Küstenwachschiff. Erst im Morgengrauen, gegen 5:30 Uhr war die Rettungsaktion beendet.

Resqship-Nadir_Mission3-Case5_Raft
Resqship-Nadir_Mission3-Case5_ITCG

Von Fischern geklauter Motor

In der Nacht von Donnerstag auf Freitag (2. Juni) suchten wir nach einem von Alarmphone gemeldeten weißen Boot mit ca. 160 Menschen an Bord. Unsere Suche blieb leider erfolglos, weil keine aktualisierten Positionsangaben mehr kamen. Deshalb brachen wir die Suche nach einigen Stunden ab. Am Morgen sichtete Colibri2 ein leeres weißes Boot nahe der letzten Positionsangabe. Wir vermuten, dass die Insassen zurück nach Libyen gebracht worden sind.

Nach Abbruch der Suche folgten wir einem weiteren Notruf von Alarmphone und fanden vormittags ein von Fischern begleitetes Holzboot (mit zwei Decks) mit 73 Menschen an Bord. Sie waren aus Libyen aufgebrochen und stammten aus Syrien, Pakistan und Palästina. Der Fischer hatte das Boot zunächst geschleppt, entfernte sich aber, als wir kamen. Von den Menschen an Bord erfuhren wir, dass der Fischer ihnen einen der beiden Motoren geklaut hatte. Der andere funktionierte noch und so begleiteten wir das Boot, bis ein italienisches Küstenwachschiff kam und die Menschen sicher an Bord nahm.

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Resqship-Nadir_Mission3-Case9-ITCG
Resqship-Nadir_Mission3-Case9_leeresBoot

Medizinische Evakuierung einer Hochschwangeren

Am gleichen Tag fanden wir gegen 17 Uhr – wieder beim Ausschauhalten – zwei weitere Boote: ein mit 17 Menschen besetztes Holzboot (darunter zwölf unbegleitete Minderjährige), alle aus Tunesien, und ein Stahlboot mit 48 Menschen an Bord, darunter vier Kleinkinder und sechs Frauen. Sie stammten überwiegend aus Guinea, Elfenbeinküste und Mali. Eine hochschwangere Frau nahmen wir zusammen mit ihrem Ehemann zu uns an Bord, um sie medizinisch versorgen zu können. Die aus Kamerun stammende Frau war unterkühlt und stark dehydriert. Unsere beiden Bordärzte stabilisierten sie mit einer Infusion und überprüften ihre Vitalparameter. Sie war soweit stabil, hatte jedoch schon Wehen in regelmäßigem Abstand und der Geburtsvorgang hätte jederzeit beginnen können. Deshalb baten wir bei der italienischen Gesundheitsbehörde um eine medizinische Evakuierung.

Um 20 Uhr kam die italienische Küstenwache, übernahm zunächst die Schwangere von der Nadir und dann auch alle anderen Geflüchteten von den beiden seeuntauglichen Booten. Während wir mit der Versorgung der Menschen aus diesen beiden Booten beschäftigt waren, war das Aufklärungsflugzeug Colibri2 von Pilotes Volontaires über das Gebiet geflogen und hatte weitere Boote in Seenot gefunden. Wir gaben die Positionen an das italienische Küstenwachschiff, als dieses gerade mit dem Abbergen der von uns gefundenen Boote fertig war, und waren froh, dass sich die Küstenwache (mit unterschiedlichen Schiffen) auch um die Evakuierung dieser weiteren Boote in Seenot kümmerte.

Resqship-Nadir_Mission3-Case10+11-Holzboot-Stahlboot
Resqship-Nadir_Mission3-Case10+11_Gaddo-Schwangere
Resqship-Nadir_Mission3-Case10+11-Schwangere_Medic-Team

Letztes Boot vor der Heimreise

An unserem letzten Tag im Einsatzgebiet (Samstag, 3. Juni) waren seltsamerweise kaum Fischer unterwegs. Doch wie schon zuvor hielten wir Ausschau und fanden so ein weiteres Stahlboot mit 39 Menschen an Bord, darunter drei oder vier Minderjährige. Es hing hinten gefährlich tief im Wasser. Umso wichtiger war eine schnelle Versorgung mit Rettungswesten. Wir begleiteten es daraufhin Richtung Lampedusa, bis ein Schiff der Guardia die Finanza kam und die Menschen übernahm.

Resqship-Nadir_Mission3-Case12_Stahlboot
Resqship-Nadir_Mission3-Case12_Boot+GDF

So haben wir an sieben Tagen zwölf Boote in Seenot gefunden, alle in der maltesischen SAR-Zone, viele aufgrund von Notrufen per Funk von Fischern, einige mithilfe von Pilotes Volontaires bzw. Alarmphone und vier durch eigene Suche – sie tauchten einfach am Horizont auf. Von den zwölf Booten waren drei aus Holz und die Mehrzahl (neun) aus Stahl. Letztere sind höchstgefährlich, da sie innerhalb von Sekunden sinken können, wenn Wasser hineindringt. Wir sind froh, dass wir alle Menschen an Bord dieser Boote sicher an die italienische Küstenwache übergeben bzw. 22 von ihnen selbst nach Lampedusa bringen konnten.

Fotos: Andrea Finkel, Annika Fulda

Update 19. Juni 2023: Video auf Wir-segeln

Kurz bevor unsere Crew ins Einsatzgebiet aufbrach, besuchte uns eine Seglerin: Franziska, die zusammen mit ihrem Freund den Youtube-Kanal Wir-segeln betreibt. Für diesen Kanal hat sie ein Video von uns gedreht, das nun veröffentlicht wurde. Klickt doch mal rein, die Werbeeinnahmen aus diesem Video spendet sie an RESQSHIP!

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