14 Boote in 7 Tagen – Kriminalisierung schafft Rettungsvakuum

von Pietro Desideri, Crew-Mitglied auf der Nadir auf Mission 4/2023 (Juni):  

Die Crew der Nadir konnte auf der vierten Beobachtungsmission in diesem Jahr mindestens 528 Personen in Seenot unterstützen. Die insgesamt 14 Boote fanden wir über einen Zeitraum von einer Woche. Während die Nadir über den Funkkanal mehr Fälle gemeldet bekam als sie alleine gleichzeitig hätte erreichen können, wurden zwei andere zivile Rettungsschiffe blockiert – ein politisch bewusst geschaffenes Rettungsvakuum vor der Festung Europa.

Auch der vierte Einsatzzeitraum der Nadir in 2023 war geprägt von vielen Notfällen und fehlenden Rettungskapazitäten. In den meisten Fällen, in denen wir Boote unterstützt haben, wurden wir über Notrufe auf Kanal 16 alarmiert. An manchen Tagen gab es auf diesem Kanal so viele Meldungen, dass es schwierig wurde, alle davon zu verfolgen. Wir entdeckten außerdem mehrere Fälle am Horizont, ohne, dass wir vorher per Funk oder E-Mail benachrichtigt wurden. Das zeigt, wie prekär die Lage für fliehende Menschen in Seenot auf dem zentralen Mittelmeer weiterhin ist.

Unsichere Stahlboote aus Sfax, Tunesien

Bis auf ein kleines Holzboot begleiteten wir nur Stahlboote. Das Kenterrisiko ist bei dieser Art von Booten besonders hoch. Die Stahlboote, denen wir zu Hilfe kamen, waren alle extrem überfüllt, hatten ein sehr geringes Freibord und waren so weit zu einer Seite geneigt, dass Sie zu kippen drohten. In keinem der 14 Boote trugen die Menschen Rettungswesten. Fast alle Boote hatten einen unzureichenden oder nicht funktionierenden Motor.

In allen Fällen, in denen uns der Abfahrtsort der Menschen bekannt war, starteten ihre Reise in Sfax, Tunesien. Sowohl das Vorherrschen von Stahlbooten als auch die steigende Zahl von Menschen, die von Tunesien aus aufbrechen, stehen im Einklang mit den jüngsten Entwicklungen auf der zentralen Mittelmeerroute. Dazu gehört unter anderem auch die fortschreitende Verschlechterung der Lebensbedingungen für Personen, die in Tunesien von Rassismus betroffen und zur Flucht gezwungen sind.

geringes-Freibord-eines-Boots-mit-Geflüchteten

Stabilisierung und Begleitung

Welche Unterstützung wir genau leisten konnten, variierte von Fall zu Fall. Aufgrund rechtlicher Hürden für die zivile Flotte nahm unsere Besatzung die Menschen der ersten Sichtung beispielsweise nicht proaktiv an Bord, sondern zog es vor, sie zu stabilisieren und eine Rettungsaktion mit einem geeigneten Schiff der italienischen Küstenwache abzuwarten. Es gab es allerdings ein paar Tage darauf auch zwei Fälle, in denen wir selbst Menschen an Bord nahmen. Darauf werden wir später in diesem Bericht näher eingehen.

Unser Konzept sah vor, bei einer ersten medizinischen Beurteilung zu überprüfen, ob es medizinische Notfälle an Bord gibt und daraufhin entsprechende Rettungsstrategien zu entwickeln. Anschließend verteilten wir Schwimmwesten, Wasser, Rehydrationslösungen und Rettungsdecken als Sonnenschutz. Wenn der Motor noch funktionierte, begleiteten wir das Boot in Richtung Lampedusa und die Kommunikation mit den zuständigen Behörden.

Crewmitglied-verteilt-Rettungsdecken

Mehrere Fälle gleichzeitig

Wir waren mit mehreren herausfordernden Situationen konfrontiert, in denen die Nadir mehrere Boote gleichzeitig unterstützen musste.

So trafen wir beispielsweise am 18.06. auf zwei Boote in Seenot. Wir stabilisierten die Situation und informierten die zuständigen Behörden. In einem Konvoi begannen wir dann, die beiden Boote langsam in Richtung Lampedusa zu begleiten, unterstützt von unserem Beiboot. Die Operation gestaltete sich schwierig, da die beiden Boote unterschiedlich schnell vorankamen. Kurz vor Sonnenuntergang verteilten wir Taschenlampen, um die Navigation bei Nacht sicherer zu machen. Nach etwa 2 Stunden Fahrt kam die italienische Küstenwache und nahm die Menschen an Bord.

Am 21.06. konnten wir dann ein Schiff einer anderen NGO, die Aita Mari, unterstützen, das sechs Notfällen gleichzeitig konfrontiert war. Wir sprachen mit der Crew der Aita Mari ab, dass die Nadir zwei der sechs Stahlboote mit 30 bzw. 40 Personen unterstützen würde. Gemeinsam mit der Aita Mari warteten wir etwa 5 Stunden lang auf eine italienische Rettungseinheit. Gegen 03.00 Uhr morgens traf die italiensiche Küstenwache vor Ort ein, nahm alle Personen an Bord und brachte diese nach Lampedusa.

Auch am 23.06. entdeckten wir zwei Boote, die wir gleichzeitig versorgen mussten. Etwa 2 Stunden nach der Sichtung des zweiten Bootes näherten sich zwei italienische SAR-Einheiten und brachten alle Personen sicher an Bord.

Mehrere-Seenotfälle-über-Reeling-Nadir

Mindestens 80 Menschen mit der Nadir nach Lampedusa gebracht

Es war ein Fischer, der uns am 19. Juni über einen weiteren Seenotfall informierte. Während wir das Beiboot zu Wasser ließen, teilte uns ein Frontex-Hubschrauber über Funk mit, dass sich das Boot in einem akuten Notzustand befand und erteilte der Nadir angesichts der Umstände und des Fehlens anderer Rettungsmittel seitens der Behörden proaktiv die Genehmigung, die Menschen an Bord zu nehmen. Wir schätzten die Zahl der Menschen im Boot auf mindestens 35, nahmen sie an Bord und brachten alle sicher nach Lampedusa.

Am Nachmittag des 23. Juni stießen wir auf ein weiteres stark überladenes Stahlboot. Unter den Menschen befand sich eine Schwangere und 22 Minderjährige. In der Nacht wurde die Situation zusehends gefährlicher und uns wurde genehmigt das Boot zu evakuieren und die Menschen nach Lampedusa zu bringen, wo drei Personen mit dem Krankenwagen ins Krankenhaus gebracht wurden.

Geflüchtete-an-Bord-der-Nadir

Malta verweigert Rettungspflicht

Während unserer Beobachtungsmission mussten wir immer wieder feststellen, dass Malta seine Pflicht zur Koordinierung von Such- und Rettungsmaßnahmen im eigenen SAR-Gebiet vollständig verweigert. Alle unsere wiederholten Versuche, vom maltesischen Maritime Rescue Coordination Center (MRCC) Unterstützung zu erhalten, blieben erfolglos.

 

Kriminalisierung der Seenotrettung geht weiter

Während unseres Einsatzzeitraums haben wir das feindselige politische Umfeld und die anhaltende Kriminalisierung der Seenotrettung, insbesondere durch die politischen Entwicklungen in Italien, hautnah miterlebt. Sowohl die willkürliche Zuweisung weit entfernter sicherer Häfen als auch das Verbot, mehr als einen Notfall zu bergen, hatten schwerwiegende Auswirkungen auf die Kapazität der gesamten zivilen Flotte. Infolgedessen war die Nadir während des größten Teils unseres Einsatzzeitraums die einzige aktive zivile einheit.

Wir prangern an, dass der Aita Mari als sicherer Hafen Salerno zugewiesen wurde, welches über 650 km weit weg war. Diese Entfernung stellt ein ungerechtfertigtes Hindernis für die Bemühungen der NGO dar, Menschen auf der Flucht zu unterstützen. Sie beeinträchtigt auch das Wohlergehen der geretteten Menschen, die gezwungen sind, in teils schlechtem gesundheitlichen und psychischen Zustand zusätzliche Zeit auf See zu verbringen. Außerdem ist uns bekannt, dass der Kapitän der Aita Mari verklagt worden ist, weil er angeblich zu viele Menschen gerettet hat. Wir verurteilen dieses Gerichtsverfahren auf das Schärfste.

Während die Nadir nicht in der Lage war, allen über den Funkkanal gemeldeten Fällen zu helfen, wurden zwei zivile Rettungsschiffe, die Aurora und die Mare*Go blockiert. Die Festung Europa versucht weiterhin, Seenotrettung zu kriminalisieren. Sie macht die ohnehin extrem gefährliche Fluchtroute über das Mittelmeer zusätzlich politisch gewollt tödlicher. Insbesondere hätte eine schnelle Einsatzgruppe wie die Aurora bei einem Schiffsunglück, bei dem drei Personen vermisst wurden, dringend benötigte Hilfe leisten können. Wir wissen von mindestens einem weiteren Schiffsunglück während unserer Einsatzzeit, bei dem über 40 Menschen vermisst wurden. Wir gedenken dieser Todesfälle in Trauer und in Wut über das rassistische Grenzregime, das sie verursacht hat.

 

Fotos: RESQSHIP / Pietro Desideri

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