Missionsbericht von Lisa Duschke, Crew-Mitglied auf der Nadir auf Mission 5/2021:
Auf der fünften Mission in diesem Jahr war die Nadir anfangs – wie schon oft zuvor – als einziges NGO-Schiff im zentralen Mittelmeer unterwegs. Bei einem Boot mit 27 Menschen an Bord blieben wir die ganze Nacht und versorgten mehrere medizinische Notfälle, bis am nächsten Morgen die Küstenwache eintraf.
Am Montag, den 13. September 2021, verlassen wir unsere Basis und nehmen Kurs Richtung Einsatzgebiet. Bereits am Morgen des nächsten Tages erfahren wir über Funk von zwei Booten mit 200 Menschen in Seenot in der Nähe Lampedusas. Wir bieten unsere Hilfe an und erhalten wenig später von der italienischen Küstenwache den Auftrag, uns zur Position der Unglücksstelle zu begeben, um Assistenz bei der Rettung zu leisten. Während der Anfahrt bitten wir ein Cargo-Schiff um Mithilfe, das sich ohne langes Zögern entschließt, uns zu unterstützen. Als wir nach etwa vier Stunden vor Ort eintreffen, erhalten wir die Information, dass die italienische Küstenwache die Menschen bereits erfolgreich retten konnte.
Noch während der Nachbesprechung unseres Auftrags hören wir wiederholte Funksprüche eines Fischerbootes, das über ein manövrierunfähiges Boot in Seenot mit Frauen, Kindern und Babys an Bord. Nachdem von offizieller Seite längere Zeit keine Rückmeldung kommt, machen wir uns auf den Weg zur Unglücksstelle. Noch während der Fahrt dorthin hören wir über Funk, dass sich die Situation inzwischen stark verschlechtert habe und Wasser ins Boot eindringe.
Medizinische Notfälle
Wir treffen auf ein kleines Fischerboot mit fünf Fischern und ein kleines Holzboot mit 27 Personen an Bord und man ist sehr froh uns zu sehen. Die Fischer versuchten seit einem halben Tag, über Funk offizielle Hilfe beizuholen und waren mit dem Seenotfall alleine überfordert. Wir verschaffen uns einen Überblick über die Lage. Auf Anraten unserer Sanitäterinnen nehmen wir zwei schwangere Frauen, ein Baby, zwei Kinder und eine verletzte Frau an Bord, um Erste Hilfe zu leisten (alle mit libyscher Nationalität). Die anderen zwanzig Personen, darunter Frauen und Jugendliche, versorgen wir mit Trinkwasser. Sie geben an, bereits seit drei Tagen auf See zu sein.
Sechs unserer medizinischen Fälle stabilisieren sich, nachdem sie etwas zu trinken und Decken bekamen. Sie sind dehydriert, erschöpft und unterkühlt, aber in keinem kritischen Zustand. Doch eine verletzte Frau leidet unter starken Schmerzen und verliert für einen Moment das Bewusstsein. Sie hat akute Blutungen und berichtet von mehreren Misshandlungen und Vergewaltigungen. Unsere Sanitäterinnen versorgen ihre akuten Verletzungen. Über mehrere Stunden wird ihr Zustand schlechter, weshalb wir eine medizinische Evakuierung per Helikopter anfordern.
Bei einem neunjährigen Jungen fallen unseren Sanitäterinnen zahlreiche Narben auf, die nach Aussagen seiner Mutter von Misshandlungen herrühren. Position und Art der Narben bestätigen dieses Bild. Der Junge sei außerdem gezwungen worden, bei einer Vergewaltigung der Mutter zuzusehen.
Wir stehen fortwährend in Kontakt zu maltesischen, italienischen und deutschen Behörden, um Unterstützung und eine zügige Evakuierung der Menschen zu erreichen. Unterstützt werden wir dabei auch von unserer Landcrew, in der auch ein Arzt für medizinische Fragen bereitsteht.
Evakuierung durch die Küstenwache
In den frühen Morgenstunden kündigt sich ein Patrouillenboot der italienischen Küstenwache an. Da inzwischen auch ein maltesisches Boot und ein Helikopter auf dem Weg sind, möchte die italienische Küstenwache zunächst nur die zwanzig Menschen aufnehmen, die noch auf dem Holzboot sind. Dank des diplomatischen Geschicks unseres Skippers gelingt es, die Küstenwache zu überzeugen, auch die sechs Menschen an Bord der Nadir zu evakuieren. So werden Tochter (17), Mutter und Bruder nicht voneinander getrennt.
Inzwischen konnten unsere Sanitäterinnen den Zustand einer Frau soweit stabilisieren, dass eine Evakuierung durch Helikopter bei Risikoabwägung mit der Evakuierung durch das italienische Patrouillenboot nachsteht.
Ein Dank geht auch an das Fischerboot, das auch nach unserer Ankunft und bis zur Evakuierung vor Ort blieb.
Erstversorgung bis Ocean Viking kommt
Am Morgen des 19. Septembers erhalten wir von der NGO Pilotes Volontaires die Meldung über ein kleines Boot in Fahrt nach Norden mit etwa 30 Personen an Bord. Am Abend sichtet das Aufklärungsflugzeug Seabird dieses Boot und gibt uns Kurs und ungefähre Entfernung durch. Inzwischen ist auch die Ocean Viking auf dem Weg dorthin, ist aber noch weiter entfernt.
Wir treffen ein Holzboot mit 58 Personen an, darunter zahlreiche Frauen, Kinder und ein gehbehinderter älterer Mann. Sie berichten davon, kaum noch Treibstoff und kein Wasser mehr zu haben. Wir versorgen die Menschen mit Wasser. Zwar sind einige Menschen dehydriert und seekrank, akute medizinische Notfälle kann unsere Sanitäterin glücklicherweise nicht feststellen. Wir bleiben noch bis zum Eintreffen der Ocean Viking vor Ort und übergeben die Menschen in die Obhut von deren Crew.
Nach neuntägigem Einsatz erreichen wir unsere Basis auf Malta. Die Nadir wird in den nächsten Tagen einsatzbereit an die Crew der nächsten Beobachtungsmission übergeben.
Fotos: RESQSHIP e.V.
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