In fünf Einsätzen 449 Menschen auf der Flucht geholfen

Text von Clemens Ledwa und Jelka Kretzschmar, Fotos von Clemens Ledwa und Jonas Müller, Crew-Mitglieder auf der Nadir auf Mission 5/2022:  

Bei der fünften RESQSHIP-Beobachtungsmission waren wir vom 27. Juli bis 12. August auf dem Wasser und haben in dieser Zeit 449 Menschen auf der Flucht begleitet, illegale Rückführungen der sogenannten libyschen Küstenwache dokumentiert sowie mehrere leere Boote identifiziert. Alle 449 Menschen konnten mithilfe der italienischen Küstenwache und der zivilen Seenotrettungsorganisation Sea-Eye europäisches Festland erreichen.

Vor dem Auslaufen zur fünften Beobachtungsmission am 27. Juli verbringt die Crew noch einige Tage neben der üblichen Missionsvorbereitung mit Wartungsarbeiten und Reparaturen. Auf dem Weg ins Einsatzgebiet trainieren wir Manöver mit der Nadir und dem RHIB auf hoher See. Während der Nacht gehen wir aus Sicherheitsgründen auf Drift, dabei ist die Fahrtgeschwindigkeit gleich Null. Es befinden sich viele leere Boote in dem Gebiet, die Kollisionsgefahr mit dem Treibgut ist zu hoch.

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4 Tage, 4 Einsätze

Am Freitagabend (29. Juli) gegen 19:30 bekommen wir von der zivilen Luftaufklärung von Sea-Watch den ersten Seenotfall gemeldet. Nach knapp zwei Stunden Suche finden wir das seeuntüchtige Holzboot. An Bord befinden sich 120 Personen auf zwei Decksflächen verteilt. Das untere Deck ist gerade einmal 50 cm hoch. Nach einer Erstversorgung bekommen wir einen der beiden Motoren wieder zum Laufen, woraufhin eine achtstündige Fahrt Richtung Norden folgt. Wir begleiten das Boot, um im Notfall den Menschen schnell helfen zu können. In den frühen Morgenstunden treffen wir auf das italienische Küstenwachschiff CP308, das alle Menschen an Bord nimmt.

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Danach nehmen wir direkten Kurs auf den nächsten Seenotfall, der uns von Alarmphone gemeldet wurde. Gegen Mittag finden wir das gesuchte Boot, die Informationen bestätigen sich: zwei kaputte Motoren, kein Wasser, kein Essen und bereits drei Tage der Sonne und dem Meer ausgesetzt. Es sind 85 Menschen an Bord, darunter eine schwangere Frau. Nachdem sie in Libyen gestartet sind, ist ihr Schleuser in Tunesien von Bord gegangen. Seitdem sind die Menschen auf sich gestellt. Da die Motoren des Bootes nicht funktionieren und unser „Mayday Relay“ und Kontaktversuche mit den zuständigen Behörden unbeantwortet bleiben, entscheiden wir uns, dass Boot zu ziehen, damit die Menschen so schnell wie möglich an einen sicheren Ort kommen. Bei diesem Manöver müssen wir extrem vorsichtig agieren und das Boot hinter uns ständig im Auge behalten. Nach weiteren vier Stunden erreichen wir die italienische SAR-Grenze, an der das Küstenwachschiff CP324 auf uns wartet, um die Menschen an Bord zu nehmen. 

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Anstatt zurück ins Einsatzgebiet zu fahren, werden wir über mehrere Stunden von der Guardia di Finanza festgehalten und unser Kapitän verhört. Als sich das Behördenschiff entfernt, ist es bereits dunkel und wir gehen für die Nacht wieder auf Drift. Wieder aus Sicherheitsgründen. Wieder befinden sich zu viele leere Boote in der Umgebung. Leere Boote, deren Geschichten oft ungewiss sind. Wenn sie zum Teil unter Wasser sind, bleibt für uns unklar, ob vorherige Insassen die gefährliche Fahrt über das Mittelmeer überstanden haben oder in libysche Folterlager zurückgezwungen wurden.

Hilfe von Fischer und Sea-Eye 4

Am nächsten Tag (Sonntag) hören wir auf Kanal 16 den Funkspruch eines Fischers an Lampedusa Radio über ein Boot in Seenot. Weder Malta noch Lampedusa reagieren und wir nehmen Kurs auf die angegebenen Koordinaten. Dort angekommen treffen wir auf den Fischer, der uns Informationen gibt. Wir setzen das RHIB ab und fahren zu den Menschen in Seenot. Unter den 88 Personen an Bord befinden sich zwölf Minderjährige. Sie sind bereits seit drei Tagen auf See und ihr Motor funktioniert nicht mehr. Wir teilen Schwimmwesten und Wasser aus. Sowohl die Funksprüche der Fischer als auch unsere Kontaktversuche werden von den verantwortlichen Behörden ignoriert. Wir sind auf uns gestellt.

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Zum Glück ist die Sea-Eye 4 seit wenigen Stunden im Einsatzgebiet und nimmt Kurs in unsere Richtung. Nach einigen Stunden ist das Schiff bei uns und beginnt mit dem Abbergen der Menschen von dem Boot.

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Gegen Mitternacht sind alle 88 Personen sicher auf der Sea-Eye 4 und werden weiter versorgt. Was wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen ist, dass die Menschen weitere zwölf Tage auf einen sicheren Hafen warten müssen.

Einen Tag später (Dienstag) bekommen wir über Alarmphone einen weiteren Seenotfall gemeldet. Die Situation an Bord wird dramatisch geschildert und wir stellen uns auf das Schlimmste ein. Als wir auf das Boot treffen, stellt sich nach einer ersten Einschätzung etwas Erleichterung ein. Allen 35 Personen an Bord, darunter mehrere schwangere Frauen und ein Kleinkind, geht es den Umständen entsprechend gut und nach einer Erstversorgung begleiten wir das Boot auf seinem Weg. Je nördlicher wir kommen, desto größer werden die Wellen. Das Boot und die Nadir müssen die Geschwindigkeit verringern, was die ohnehin stundenlange Fahrt noch weiter verlängert. Auf dem Weg versucht unser Kapitän, die zuständigen Behörden zu alarmieren. Unser „Mayday Relay“ bleibt wieder einmal ohne Erfolg. Erst als wir einen Pan-Pan-Funkspruch abgeben, erfolgt eine Reaktion.

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Italien kommt mit drei Schiffen

Wir sehen Land am Horizont, Lampedusa ist in Sichtweite. Mit der Insel tauchen auch mehrere Punkte auf, zwei Schiffe der Küstenwache und eins der Guardia di Finanza. Als wir näherkommen, drehen alle drei Schiffe (CP319, CP273, Paolini) ab und fahren davon. Weg von der Nadir und weg von den Menschen in Seenot. Bei einem Kentern des Bootes wäre so einzig die Nadir in Reichweite zum Hilfeleisten gewesen – bei zunehmender Welle und in der Dämmerung eine große Herausforderung. Dieses Verhalten der Behörden stufen wir als grob fahrlässig ein. Die Patrouillenboote halten immer wieder inne, nur um kurze Zeit später wieder ihren Kurs weg vom Seenotfall zu ändern. Wir vermuten, dass die Behörden Bildmaterial vom Boot für ein potenzielles Verfahren sammeln wollen. Dabei nimmt die Kriminalisierung von Menschen auf der Flucht für die Behörden einen höheren Stellenwert ein, als diese zu retten. Diese Praxis verurteilen wir auf das Schärfste. Als schließlich doch die Küstenwache die Leute abbirgt, fällt uns auf, wie aggressiv die Kommunikation gegenüber den Menschen auf dem Boot ist. Wir winken uns ein letztes Mal zu, bevor die Menschen ihren Weg ohne uns fortsetzen.

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Kein Pull-Back ist legal

In den nächsten Tagen verbleiben wir an der Grenze zum libyschen SAR-Gebiet. Zusammen mit der Imara, Sea-Eye 4 und Astral decken wir nun ein großes Gebiet ab. In den wachfreien Zeiten beschäftigen wir uns mit kleineren Wartungsarbeiten und Ausbesserungen am Schiff. Per Funk und Mail kommen immer wieder neue Seenotfälle, jedoch weit von unserer Position. Ein Fall ist nicht nur für uns, sondern auch für alle anderen NGO-Schiffe zu weit entfernt. Es gelingt jedoch, die Reederei der Vega Scorpio, die sich in der Nähe des Bootes befindet, zu überzeugen, die Suche nach dem Boot aufzunehmen. Dabei werden sie durch ein weiteres kommerzielles Schiff unterstützt, jedoch ohne Erfolg.

Am Tag darauf bekommen wir die erfreuliche Info, dass das Boot weiterhin in Fahrt und kurz vor Sizilien ist. Wir sind währenddessen zu einer neuen Position unterwegs. Am Horizont sehen wir einen grauen Punkt, der sich sehr schnell auf uns zubewegt. Es ist das Patrouillenboot 658 der sogenannten Libyschen Küstenwache. Es passiert uns sehr nah an Steuerbord, dreht bei und fährt zu einem weiteren libyschen Schiff, der P300. Auf den Fotos erkennen wir mehrere Personen auf dem Vorschiff. Wir vermuten, dass dieses Küstenwachschiff Boote abgefangen hat und die Menschen nun illegal nach Libyen zurück bringt. Wir bleiben auf unserem Kurs und hoffen, dass das Boot, nach dem wir suchen, noch nicht entdeckt wurde. Nach einer Weile treffen wir abermals auf die P300, die uns unbemerkt überholt hat. Nun befinden sich noch mehr Personen auf dem Deck. Nach mehrstündiger erfolgloser Suche und dem Ausbleiben von neuen Informationen müssen wir die Suche abbrechen. Wir vermuten, dass die Menschen, nach denen wir gesucht haben, bereits auf einem der libyschen Schiffe gegen ihren Willen und gegen internationales Recht zurückgebracht wurden. Wir befinden uns mittlerweile 30 Meilen nördlich von Sabratha.

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Auf dem Nachhauseweg – und wieder zurück ins Einsatzgebiet

Unser Einsatzzeitraum neigt sich dem Ende zu. Auf dem Weg Richtung Norden bekommen wir die Flugroute einer Drohne zugeschickt, die von ihrem üblichen Muster abweicht und oft um ein und denselben Punkt kreist. Bei den Koordinaten der Drohne angekommen können wir nichts finden, woraufhin wir unsere Fahrt Richtung Hafen fortführen. Unser Weg führt uns an Lampedusa mit Buchten voller Yachten und Badestränden vorbei. Parallel dazu hören wir, wie ein Fischer Hilfe für ein Boot voller Menschen per Funk anfordert. Seine sowie unsere Anfragen werden von den Autoritäten weitestgehend ignoriert.

Nördlich von Lampedusa entschließen wir uns, das Einsatzende nach hinten zu verschieben, da wieder vermehrt Seenotfälle gemeldet werden. Wir gleichen die Koordinaten ab und berechnen eine Route, die so viel Fläche wie möglich abdecken soll. Erst in den frühen Morgenstunden können wir zwei leere Boote identifizieren, die auf die Beschreibungen vom Vortag passen. Trotz mehrfacher Anfrage beim zuständigen Rettungszentrum in Malta wurden wir darüber nicht informiert. So suchten wir stundenlang, ohne zu wissen, dass die Menschen bereits durch die italienische Küstenwache aufgenommen wurden.

Fünfter Einsatz kurz vor der Heimreise

An unserem letzten Morgen im Einsatzgebiet sind wir nicht alleine auf der Suche. Das Flugzeug Colibri 2 der Organisation Pilotes Volontaires alarmiert uns über ein überfülltes Holzboot in unserer Nähe. Als wir Sichtkontakt haben, lassen wir das RHIB zu Wasser und teilen Rettungswesten und Wasser an alle 121 Personen an Bord aus. Während der Erstversorgung kreist die Seabird von Sea-Watch über uns, die genau wie die Colibri 2 auf der Suche nach mehreren Seenotfällen ist. Wir begeben uns, wie zuvor mit den anderen Booten, auf den Weg Richtung Lampedusa. Nach Sonnenuntergang treffen wir auf das italienische Küstenwachschiff CP319, dass an der italienischen SAR-Grenze auf uns wartet. Wir verabschieden uns von den Menschen, die wir zuvor begleitet haben, mit den Worten „bon voyage“.

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​Auf dem Weg Richtung Malta beginnen wir mit der Nachbereitung der Mission und des Schiffes, um es im bestmöglichen Zustand der nächsten Crew übergeben zu können, die schon bald wieder aufbrechen wird. Die Erfahrungen dieser Mission haben abermals gezeigt, wie unverzichtbar zivile Akteure im zentralen Mittelmeer sind, um etwas dem Sterben auf See und der Tatenlosigkeit der Europäischen Union entgegenzusetzen. Wir stehen in kompromissloser Solidarität mit jeder Person auf der Flucht.

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Fotos: Clemens Ledwa und Jonas Müller (außer Luftaufnahme: Samuel Müller)

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