„Die tunesische Polizei hat meine Frau totgepeitscht“ – Ausnahmesituation auf dem tunesischen Korridor

von Marie, Crew-Mitglied auf der Nadir auf Mission 5/2023 (Juli):  

Während rassistische Pogrome in Tunesien – befeuert von der Regierung – weiter eskalieren, die EU mit eben jener einen weiteren schändlichen Deal zur Migrationsabwehr trifft und die Zahlen von Flüchtenden nach Europa Höchststände erreicht, bricht die Nadir zu ihrem 5. Einsatz in diesem Jahr auf. Es wurde ein Einsatz der Extreme: In neun Tagen in der Such- und Rettungszone – inmitten einer Rekord-Hitzewelle – konnte unsere 7-köpfige Crew 830 Menschen auf der Flucht unterstützen, wovon 485 an Bord der Nadir genommen wurden. Wir wurden Zeug:innen der Auswirkungen unfassbarer Brutalität, erlebten aber auch ermutigende Momente der Solidarität.

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Triage und gebrochene Knochen auf dem Mittelmeer

Kaum, dass wir am Nachmittag des 14. Juli von Lampedusa in Richtung Süden aufgebrochen waren, erhielten wir Informationen von dem zivilen Flugzeug Colibri 2  von Pilotes Volontaires über 25 Boote in Seenot. Eine unglaubliche Anzahl. Während die bedeutend schnellere Aurora von Sea Watch sich auf die südlichen gemeldeten Fälle konzentrierte, fanden wir mit Hilfe von Colibri 2 schnell zwei der nördlicher treibenden Metallboote – der Horizont gespickt durch leere Boote. Zu unserer Überraschung bekamen wir die Anweisung von den italienischen Behörden, alle Menschen an Bord zu nehmen und später an ein Schiff der italienischen Küstenwache zu übergeben. Zeitgleich passierten uns mehrere Schiffe der italienischen Küstenwache und der Guardia di Finanza auf dem Weg zu weiteren Seenotfällen und wir hörten, dass die Aurora bereits alle ihre Rettungswesten ausgeteilt hatte und immer wieder auf neue Boote stieß. Auf Anweisung des italienischen Maritime Coordination Centre (MRCC) setzten wir Kurs Richtung der Aurora, um ihr zur Seite zu stehen, erhielten jedoch kurze Zeit später die Anweisung, nach einem sinkenden Boot zu suchen. Im Dunklen fanden wir zwei Boote, die von der Aurora mit Westen ausgestatten worden waren, entschlossen uns jedoch schweren Herzens, sie zurückzulassen, um nach dem sinkenden Boot zu suchen. Verzweifelt hielten einige Menschen ein Baby hoch, um uns zu überzeugen, sie zu retten. Ihre Hilfeschreie in der Finsternis, als wir davonfuhren, werden wir wohl nie vergessen. Das dritte Stahlboot, das wir fanden, lag so tief und schräg im Wasser, dass die Aurora-Crew es mit einem Centifloat – einem schwimmenden Rettungsschlauch – gesichert hatte. Da wir trotz intensiver, mehrstündiger Suche das sinkende Boot nicht gefunden hatten, entschlossen wir uns alle 47 Menschen von diesem akut kentergefährdeten Boot an Bord der Nadir zu nehmen. Kurze Zeit später stießen wir auf ein Schlauchboot und nahmen auch hier alle Insass:innen auf. Drei von Ihnen hatten gebrochene Unterschenkel, was die Evakuierung zu einer Herausforderung machte. Später berichteten sie, dass sie unabhängig voneinander und vor rassistischen Angriffen fliehend aus Fenstern gesprungen waren und sich so die Frakturen zugezogen hatten. Auch andere Menschen erzählten von Gewaltexzessen in Tunesien. Mit den Menschen an Bord begannen wir unsere Reise zurück nach Lampedusa. Erst am nächsten Morgen erfuhren wir zu unserer unendlichen Erleichterung, dass die Rise Above von Mission Lifeline die zwei von uns zurückgelassenen Boote gefunden hatte. Was aus dem sinkenden Boot geworden war, haben wir nie erfahren.

 

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4 Boote – 158 Menschen

Nachdem die Menschen am nächsten Morgen in Lampedusa sicher an Land gingen, folgte direkt ein ähnlicher Einsatz: Wir unterstützen 158 Menschen auf vier Metallbooten, konnten einige Menschen an die Küstenwache übergeben und liefen mit einigen Menschen im Hafen Lampedusas ein.

Die Aurora, die Rise Above und die Mare*Go, die in den ersten Tagen mit uns im Einsatzgebiet waren, hatten jeweils viele Boote unterstützt und Menschen an Bord genommen. Aufgrund eines Beschlusses der post-faschistischen Regierung in Italien wurden ihnen weit entfernte Häfen zugewiesen, was bedeutet, dass sie lange nicht einsatzbereit sein würden und die Nadir erneut das einzige Schiff der zivilen Flotte vor Ort war.

 

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„Mayday Relay, Mayday Relay, people in the water“.

Wieder brauchten wir gut 1,5 Tage, um die Genehmigung zum Auslaufen zu erhalten und wieder einsatzbereit zu sein. Am Abend des 18. Juli brachen wir erneut auf. Schon beim Auslaufen gegen Mitternacht wussten wir von der zivilen Notfall-Hotline Alarm Phone von einem Fiberglass-Boot mit 37 Menschen, die aus Libyen gestartet waren und bereits seit vielen Stunden steuerlos auf dem Meer trieben. Nach über 6 Stunden fanden wir sie. Die Freude auf beiden Seiten war groß und noch größer als der Motor wieder lief. Gemeinsam fuhren wir Richtung Norden, während aus dem Boot hinter uns Gesänge erklangen. Währenddessen erreichten uns wieder über ein Dutzend Meldungen von dem Flugzeug Colibri2 über seeuntüchtige Boote. Eins lag unweit unseres Kurses und trieb seit geraumer Zeit.

Dann kam über das Radio eine Meldung von dem Frontex Flugzeug Eagle2: „Mayday Relay, Mayday Relay, […] people in the water“. Die Anspannung in der Crew stieg schlagartig. Das Beiboot wurde zu Wasser gelassen und fuhr mit Rettungsmaterial voraus. Bereits aus der Ferne sahen wir 10 Menschen im Wasser, erkannten jedoch bald, dass alle am Boot hingen. Mit Hilfe des Centifloats sicherten wir die Menschen im Wasser und brachten sie zur Nadir. Wir erfuhren, dass die Menschen schon so lange manövrierunfähig getrieben waren, dass einige der Männer ins Wasser gesprungen waren, um das Boot schwimmend zu schieben. Während sie an Bord versorgt wurden, verteilten wir Rettungswesten an die anderen und evakuierten die Frauen und Kinder auf die Nadir in der brütenden Mittagshitze.

 

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                          Photos: David Lohmueller

Ein Tag der Extreme – ein Tag der grenzenlosen Solidarität

Die Menschen im Fiberglass Boot und die verbleibenden Menschen aus dem Metallboot wurden gegen Mittag von einem Schiff der italienischen Küstenwache übernommen. Es sollte nicht der letzte Besuch eines Küstenwachschiffes an diesem Tag werden und bei weitem nicht das letzte überfüllte Metallboot. Es wurde ein Tag der Extreme für 316 Fliehende, die 18 Meter lange Nadir und ihre 7- köpfige Crew. Nach und nach stießen wir auf 6 weitere überfüllte Metallboote. Die Wettervorhersage verhieß Windstärken, die solche Boote mit großer Wahrscheinlichkeit nicht überstanden hätten. Es war ein Wettlauf gegen die Zeit. Die Crew, die bereits seit einem Tag ununterbrochen im Einsatz war, gerat an ihre Grenzen. Was in den folgenden Stunden geschah, wäre ohne die Mithilfe unserer Gäste an Bord nicht möglich gewesen. Die Linien zwischen Crew und Gästen verschwammen und wir arbeiteten gemeinsam Hand in Hand. Gerade erst Gerettete übernahmen die Verteilung von Essen und Trinken, informierten über medizinische Fälle und kümmerten sich um die Seekranken. Währenddessen wurde uns immer wieder zugesagt, dass die italienische Küstenwache ein Schiff schicken würde. Wir sahen diese häufig in der Ferne, doch waren sie meist voll, bevor sie uns erreichten oder konnten nur ein Boot in unserer Nähe abbergen. Unterdessen arbeitete das Team im Beiboot unermüdlich daran, immer mehr Menschen zu evakuieren und die zeitweilig bis zu 5 um uns treibenden Metallboote beisammen zu halten, um sie in der einbrechenden Dunkelheit nicht zu verlieren. Mittlerweile hatten wir viele Menschen an Bord und zwei Rafts mit weiteren Personen am Schiff befestigt.

Erst Stunden nach Einbruch der Dunkelheit kam endlich das versprochene Schiff der italienischen Küstenwache, welches alle Menschen von den treibenden Booten, aus den Rafts und einige Frauen und Babys von der Nadir aufnahm. Wir machten uns daraufhin auf den langen Weg nach Lampedusa, wo die Menschen in den frühen Morgenstunden von Bord gehen konnten.

 

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„Die tunesische Polizei hat meine Frau tot gepeitscht“

Vor Ende unseres Einsatzes haben wir noch ein letztes Mal Kurs Richtung des tunesischen Korridors gesetzt, wo wir gemeinsam mit dem Segelschiff Imara drei Metallboote versorgten. Die Imara nahm 20 Menschen an Bord und fuhr voraus, während wir die weiteren Menschen auf die Nadir und in ein Raft aufnahmen und langsam folgten. Die mehrstündige Fahrt gab allen an Bord Zeit, sich besser kennenzulernen. Menschen, die sich gerade erst begegnet waren, kümmerten sich um hellwache Kinder, damit die Mütter ruhen konnten. Es wurde viel gesungen, mehrfach gekocht und Kranke und Verletzte versorgt. Es waren geteilte Momente der Solidarität und mitgenommen hat uns die Geschichte eines Sudanesen, der mehrere genähte Wunden und einen tiefen, infizierten Schnitt an der Hand hatte. Er berichtete, dass er, seine Frau, ein Freund und dessen Frau in einem Park in Tunesien übernachtet hätten. Solidarische Tunesier:innen versorgten sie mit Essen. Doch dann kam die Polizei und hätte mit Peitschen auf sie eingedroschen. Der Mann erlitt mehrere Wunden, während die zwei Frauen zu Tode gepeitscht wurden. Was mit seinem Freund geschehen sei, wisse er nicht. Er habe ihn nie wieder gesehen.

Sprachlos traten wir den Rückweg nach Malta an, da das Wetter umschlug. Während die Nadir sich durch das stürmische Meer kämpfte, konnten wir nur hoffen, dass keine Boote da draußen unterwegs waren.

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Dies waren einige der Eindrücke, die wir aus den 9 Tagen im Einsatzgebiet mitnehmen. Schwer zu ertragen ist, zu sehen welche Gefahren, Brutalität und Ungerechtigkeit Fliehende ertragen müssen, während in Brüssel kontinuierlich daran gearbeitet wird, die Mauern der Festung Europa noch höher zu bauen und den Weg dorthin noch tödlicher zu gestalten. Unsere Trauer gilt den Opfern dieses rassistischen Grenzregimes, unsere Solidarität den Hinterbliebenen und Überlebenden und unsere Wut denen, die an Schreibtischen sitzend die Tode zu verantworten haben.

 

Fotos: Elena Kloppmann, Crewmitglied auf der Nadir

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