von Elena Kloppmann, Crew-Mitglied auf der Nadir auf Mission 06/2022:
In 15 Tagen auf See erlebte die Crew der Nadir ein sehr bewegtes Mittelmeer, suchte viele über Notrufe gemeldete Boote und konnte insgesamt rund 560 Menschen in fünf Booten in akuter Seenot unterstützen. Bereits am vierten Tag der Mission mussten wir Menschen an Bord der Nadir nehmen, wo sie über 40 Stunden eng zusammengepfercht verbrachten, bevor Lampedusa als sicherer Hafen zugewiesen wurde. In erfolgreicher Zusammenarbeit mit anderen NGOs nahmen die Ocean Viking, Sea-Eye 4 und Humanity 1 jeweils Menschen auf, die wir zuvor erstversorgt hatten. Doch nicht immer konnten wir helfen, zwei illegale Pullbacks nicht verhindern und bei einem Boot wissen wir bis heute nicht, was mit den Insassen passierte – wir haben es nie gefunden.
Am Abend des 23. August verließen wir als neu zusammengewürfelte Crew den Hafen, um uns für die sechste Mission dieses Jahres auf den Weg in die SAR-Zone zu begeben. Nachdem sich in der ersten Segelnacht die Mägen an die neue Lebenssituation gewöhnt hatten, mussten wir direkt die harte Realität des Mittelmeers verdauen, als wir nur wenige Stunden nach der Meldung eines ersten Seenotfalles vom illegalen Pullback nach Libyen erfuhren. Daraufhin verbrachten wir den Rest des ersten Tages auf See mit intensiven Trainings mit dem Beiboot, um auf verschiedene Einsatzszenarios vorbereitet zu sein.
12 Menschen zusammen mit Ocean Viking gerettet
Bereits am Morgen des nächsten Tages tauchte am Horizont ein kleines Schlauchboot auf, dass schnell auf uns zukam. Darin befanden sich 12 Menschen, was für dieses kleine Boot viel zu viel war. Zu Beginn fuhren wir parallel zu ihnen weiter, doch gegen Mittag stoppten sie, weil ihr Motor ausfiel. Wir übernahmen die Erstversorgung mit Rettungswesten, Wasser und Keksen unter erschwerten Umständen, da es keine gemeinsame Sprache gab. Während wir versuchten, die mutigen Menschen mit unserem kleinen arabischen Wortschatz zu beruhigen, machte sich die Ocean Viking, die in der Nähe war, auf den Weg zu uns. Mit tatkräftiger Unterstützung aus der Luft durch Pilotes Volontaires harrten wir gemeinsam aus, bis ca. drei Stunden später alle Personen sicher an Bord der Ocean Viking waren.
58 Gäste an Bord der Nadir
Noch am Abend desselben Tages ging die nächste Seenotfall-Meldung bei uns ein, auf die wir direkten Kurs setzten, um die Menschen in Not zu unterstützen. Nachdem wir durch die Nacht hindurch gesegelt waren, fanden wir kurz vor Sonnenaufgang 58 Menschen – davon ein Kleinkind, viele Minderjährige und vier Frauen, eine schwanger – in einem überfüllten Schlauchboot vor. Die Wellen wurden immer stärker und die Situation für die Menschen tief in der libyschen SAR-Zone war in höchstem Maße lebensgefährlich. Deshalb entschieden wir, alle sofort an Bord der Nadir zu nehmen. Nach einer nicht unkomplizierten Evakuierung haben wir die Gäste bei uns an Bord erstversorgt und unsere Bordärztin hat sie untersucht. Während wir Essen und Getränke verteilten, erfuhren wir mehr über unsere Gäste: Sie erzählten uns, dass sie bereits seit zwei Tagen auf See waren und aus vielen Ländern kamen, u. a. aus Ägypten, Bangladesch, Süd-Sudan und Nigeria.
Zwischen Englisch, Französisch und arabischen Fetzen erklärten wir ihnen, was nun in den nächsten Stunden und Tagen auf sie und uns zukäme: der Kampf um einen Place of Safety. Während der Nacht versuchten wir alle vor dem Frieren zu bewahren, tagsüber war kaum Schutz vor der brütenden Hitze zu finden – kurzum, die Situation an Deck war unerträglich. Nach circa 40 Stunden – bereits vor der Küste Lampedusas driftend – mussten einige medizinische Fälle evakuiert werden und die Gesamtsituation wäre nicht mehr lange tragbar gewesen. Die Vorräte gingen zur Neige und die Stimmung auch der geduldigsten Gäste drohte immer mehr zu kippen. Endlich, gerade als wir verzweifelt überlegten, wie wir eine weitere Nacht überstehen sollten, erhielten wir die Erlaubnis zum Einlaufen in den Hafen. Große Erleichterung schwappte über das Schiff, gepaart mit der Unsicherheit demgegenüber, was an Land wohl warten würde. Nach dem Abschied fühlte sich die Nadir plötzlich sehr leer an und wir fielen erschöpft, aber tief berührt durch den Mut und unerschöpfliche Hoffnung der Geflüchteten, in unsere Kojen.
Gemeinsamer Einsatz mit Sea-Eye 4
Nach ein paar Tagen in Lampedusa, in denen wir aufräumten, die Geschehnisse verarbeiteten und unsere Vorräte wieder auffüllten, setzen wir am Abend des 1. September wieder die Segel gen SAR-Zone. Bereits am Mittag des nächsten Tages stießen wir auf den nächsten Seenotfall. Zunächst sahen wir das Boot auf dem Radar, dann am Horizont und schon sehr bald neben uns. In dem überfüllten Holzboot schienen auf den ersten Blick circa 60 Menschen zu sein. Da der Motor noch lief, fuhren wir zunächst gemeinsam weiter Richtung Norden, wo wir die Sea-Eye 4 wussten. Das Holzboot war allerdings für die Insassen fast nicht zu kontrollieren, was zu sehr gefährlichen Manövern führte und die Fahrt bald stoppte. Kurze Zeit später tauchte bereits die Sea-Eye 4 am Horizont auf, um die Menschen von dem seeuntauglichen Boot zu bergen. Die Situation an Bord war recht instabil und zweimal fielen einzelne Personen ins Wasser, die aber jeweils schnell wieder gerettet werden konnten. Während Sea-Eye 4 die Personen mit zwei Beibooten in brütender Hitze evakuierte, waren wir mit unserem Beiboot im Standby, um bei Bedarf zu assistieren. Bald fiel auf, dass nach der Evakuierung der ersten Leute, sich das Boot wieder mit neuen Menschen zu füllen schien, und wir entdeckten mit Schrecken, dass es sich um einen Doppeldecker handelte. Nach über zwei Stunden waren dann auch die letzten Personen an Bord der Sea-Eye 4. Insgesamt hatten sich 61 Personen an Deck und 15 Personen unter Deck befunden. Wir wurden mit einem herzlichen „bis bald“ auf Deutsch von ihnen verabschiedet und winkten ihnen hinterher, in der Hoffnung, dass sie einen schnellen Weg an Land fänden.
Frontex meldet Seenotfall – vergebliche Suche
Nur ein kleines verspätetes Mittagessen war uns vergönnt, als schon der nächste Fall bei uns landete. Dieses Mal hörten wir ein „Mayday Relay“ über Funk, gesendet von einem Frontex-Flugzeug. Der Funkspruch besagte, dass circa 30 Menschen an Bord seien. Die gesendete Position war vor der tunesischen Küste und wir wechselten prompt den Kurs. Durch die Nacht segelnd, suchten wir dieses Boot über sechs Stunden hinweg erfolglos. Als wir dann einen weiteren Fall in erreichbarer Nähe gemeldet bekamen, über den es viel mehr Informationen gab, mussten wir die harte Entscheidung treffen, die Suche abzubrechen. Über den Verbleib der 30 Menschen, die am 2. September vor der Küste Tunesiens von dem Frontex-Flieger Osprey 2 gesichtet wurden, wissen wir bis heute nichts. All unsere Bemühungen, etwas herauszufinden, waren erfolglos. In Lampedusa sind sie mit großer Wahrscheinlichkeit nicht angekommen.
300 Menschen in Seenot
Wir wendeten uns nun also der Suche eines Seenotfalls zu, bei dem 300 Menschen in einem instabilen Holzboot unterwegs waren. In den späten Vormittagsstunden entdeckten wir das Boot am Horizont und stellten fest, dass es noch mit eigener Kraft fuhr. Mit wildem Winken begrüßt, beschlossen wir jedoch aufgrund der schieren Größe des Boots auf Sicherheitsabstand zu bleiben. Die Gefahr, die Situation weiter zu destabilisieren, konnten wir nicht riskieren, zumal wir nicht genügend Rettungswesten oder -materialien an Bord hatten, um 300 Menschen zu versorgen. Als wir die italienische SAR-Zone erreichten, meldeten wir das Boot bei der italienischen Küstenwache, die sofort mit einem Helikopter und zwei Booten zu Hilfe eilte. Da bereits ein weiterer Seenotfall in unserer Nähe war, fuhren wir der Sea-Eye 4 entgegen und folgten gemeinsam einem Boot, das es dann aber aus eigener Kraft nach Lampedusa schaffte und unser unterstützendes Eingreifen nicht weiter brauchte.
Nach einem Tag im Standby, den wir mit Delfinbeobachtung und kleineren Reparaturen am Schiff verbracht haben, erfuhren wir von einem neuen Seenotfall, der recht weit östlich war. Wir setzten unsere Segel, um den 35 Menschen in einem Schlauchboot zu Hilfe zu eilen. Die Stunden verstrichen viel zu langsam und nach circa zehn Stunden mussten wir dann die Meldung eines illegalen Pullbacks der Insassen verdauen.
111 Menschen mithilfe der Humanity 1 gerettet
Am letzten Tag unserer Mission stießen wir am Nachmittag tief in der libyschen SAR-Zone wieder auf ein Boot. Es war ein großes, manövrierunfähiges Schlauchboot, auf dem sich insgesamt 111 Personen drängten. Nachdem wir Rettungswesten verteilt hatten und die Humanity 1 sich auf den Weg zu uns machte, entschieden wir, die beiden Frauen sowie die zwei Kleinkinder und den dazugehörigen Vater an Bord der Nadir zu nehmen, da sie über Schmerzen klagten und das überfüllte Boot besonders für Kinder extrem gefährlich war. Die verbleibenden jungen Männer und Jungs haben wir mit Wasser, Keksen, Eimer zum Wasser aus dem Boot schöpfen und Vomex gegen Seekrankheit versorgt. Dann hieß es warten, aber die Passagiere zeigten sich alle sehr geduldig. Unsere Beiboot-Crew blieb bei dem Boot und seinen Insassen, bis die Humanity 1 übernahm und alle Personen aus dem Boot und von Bord der Nadir aufnahm.
Heimreise voller Emotionen
Erleichtert über den erfolgreichen Abschluss wendeten wir uns einer letzten Nacht des Patrollierens in der SAR-Zone zu. Am nächsten Tag setzten wir die Segel wieder gen Malta, um die Nadir dort an die folgende Crew zu übergeben. Rückblickend sind wir erfüllt von einer Vielzahl an Emotionen: Dankbarkeit für die solidarische Kooperation und Unterstützung von Land durch Alarm Phone und unsere Landcrew, aus der Luft durch Pilotes Volontaires, und vor allem auf See durch SOS Méditerrannée, Sea-Eye, die italienische Küstenwache und SOS Humanity; Respekt und Sorge um all die Menschen, die wir auf ihrem schwierigen Weg entlang der Außengrenzen Europas unterstützen konnten, die unglaubliche Stärke und Resilienz zeigen auf ihrer Flucht; Trauer um all jene, für die wir zu spät kamen oder die wir nicht gefunden haben; und Wut angesichts der mutwilligen Abschottung Europas und der Pflichtverweigerung der zuständigen Behörden, die Menschenleben kostet.
Fotos: Elena Kloppmann und Daniel Babilon
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