Ein kleines Schiff mit einem großen Auftrag

von Giulia Guffanti, Crew-Mitglied auf der Nadir auf Mission 6/2023 / Übersetzung, deutsche Interpretation Jelka Kretzschmar:

Im Angesicht von Gewalteskalation, Missbrauch und rassistischen Angriffen in Tunesien brechen viele Menschen auf, um über das Mittelmeer zu flüchten. Das kleine Segelschiff Nadir startet zu ihrem sechsten Einsatz im Jahr 2023 und wird während des 14-tägigen Einsatzes im zentralen Mittelmeer mehr als 880 Menschen auf 21 Booten in Not helfen.

 

Flüchtlingsboot_in_Seenot_in_Dämmerung

EINE DRINGENDE MEDIZINISCHE EVAKUIERUNG, ABER KEINE VERFÜGBAREN MITTEL

Am Abend unseres ersten Einsatztages trafen wir direkt auf drei Boote. Nach einer ersten Einschätzung und der Ausgabe von Rettungswesten stellten wir verschiedene medizinische Notfälle fest. Während wir damit begannen, die schweren Fälle auf die Nadir zu evakuieren, hatte in der Finsternis ein weiteres, viertes Boot den Einsatzort erreicht, ohne dass wir es bemerkten. Erst später, im Schein der Taschenlampen bemerkten wir, dass sich die Zahl der in Not geratenen Menschen um uns herum vervielfacht hatte.

Eine folgende medizinische Untersuchung der Personen an Bord ergab, dass sich sechs schwangere Frauen in kritischem Zustand befanden. Eine von ihnen hatte starke Bauchschmerzen und wurde ohnmächtig. Obwohl wir die Patientin an Bord medizinisch zu stabilisieren versuchten, blieb ihr Zustand problematisch – sie musste dringend in ein Krankenhaus. Als wir uns jedoch mit den zuständigen Behörden für eine Notevakuierung in Verbindung setzten, erhielten wir die erschreckende Antwort, dass keine Mittel zur Verfügung stünden. Diese Information war für uns alle ein Schock, da wir längst an der Grenze unserer Kapazität angelangt waren, aber bei weitem nicht alle Menschen versorgt waren.

Von den Behörden allein gelassen und in der dringenden Notwendigkeit, Menschen an Land zu bringen, entschieden wir, alle Menschen in Not auf die 18-Meter lange Nadir zu holen, um so schnell wie möglich den nächsten sicheren Ort in Lampedusa anzusteuern. Glücklicherweise näherte sich kurz darauf ein Schiff der Küstenwache, um die medizinischen Notfälle zu übernehmen. Das Schiff der Küstenwache war bereits voll mit Menschen, als es eintraf, aber es nahm trotzdem insgesamt 60 Personen von der überfüllten Nadir auf, so dass wir wieder mobil waren und sicherer navigieren konnten. Dann begannen wir eine lange Fahrt nach Lampedusa – mit den verbliebenen Gästen an Bord erreichten wir den Hafen nach 10 Stunden.

Geflüchtete_von_hinten_an_Bord
Schatten_fuer_Gaeste_an_Bord

SCHIFFSUNGLÜCKE VOR LAMPEDUSA

Fast drei Tage lang waren wir gezwungen, wegen schlechten Wetters in Lampedusa Schutz zu suchen und konnten so körperlich und emotional neue Kraft schöpfen. Während der Wind uns wiederholt den Anker aus dem Boden riss, erfuhren wir von zwei akuten Schiffsunglücken nahe Lampedusa. Zwei Menschen wurden tot aufgefunden und mehr als 30 Personen bleiben vermisst. Zivile Rettungskräfte konnten entweder aufgrund des Wetters nicht operieren oder waren von italienischen Autoritäten weit entfernt zu nördlicheren Häfen geschickt worden. So konnten wir nur verzweifelt warten und Zeug*innen schrecklicher Folgen der europäischen Grenzpolitik werden.

In diesem Moment der Wut und Traurigkeit erhielten wir aber plötzlich gute Nachrichten von dem medizinischen Team der Küstenwache. Sie erzählten, dass beide evakuierten Frauen unserer ersten Nacht entbunden hatten. Eine direkt auf dem Steg bei der Ankunft und die andere am nächsten Tag. Mütter und Kinder waren alle gesund und wurden im Krankenhaus von Lampedusa versorgt.

Boot_mit_Geflüchteten_am_Horizont

600 MENSCHEN IN 48 STUNDEN

Mit dieser positiven Nachricht im Hinterkopf verließen wir den Hafen, sobald das Wetter es uns erlaubte. Wir trafen auf mehrere weitere Boote in Seenot die wir nach einer Erstversorgung und Stabilisierung an die italienische Küstenwache übergeben konnten. Wir stabilisierten ein doppelstöckigen Holzboot bis die Ocean Viking von SOS Mediterranée den Ort erreichte und die Menschen an Bord nehmen konnte. Vorab brachten wir einen bewusstlosen 19-jähriger Mann als Notfall auf die Nadir der später notevakuiert wurde. Direkt im Anschluss wurden wir vom MRCC Rom angewiesen das Segelschiff Astral von Open Arms zu unterstützen, das sich um drei in Seenot befindliche Boote kümmerte. Als wir im Morgengrauen eintrafen, hatte die Astral bereits eines der drei Boote evakuiert und an die anderen Rettungswesten verteilt. An Bord kümmerte man sich um einen medizinischen Notfall. Noch während wir die Situation einzuschätzen versuchten, tauchte ein weiteres Boot am Horizont auf.

Da das vierte Boot recht schnell war und stabil zu sein schien, setzten wir uns alle gemeinsam in Richtung der italienischen SAR-Region in Bewegung – Astral, Nadir, zwei Beiboote und drei Eisenboote. Während wir aufgrund immer wieder auftretender Probleme mit den Motoren der Boote nur langsam vorankamen und die Sonne immer höher stieg, änderte sich die Situation und das Wohlbefinden auf den Booten drastisch. Zwei der Boote waren bereits drei und vier Tage auf dem Wasser und einige Menschen begannen plötzlich, Meerwasser zu trinken. So starteten wir die Evakuierung jenen Bootes, das bereits seit vier Tagen unterwegs war und es zeigte sich, wie eminent wichtig diese Entscheidung war, als wir eine bewusstlose Frau und drei Schwangere auf die Nadir brachten.

Während wir weiter Menschen von dem rostigen Eisenboot evakuierten, tauchten immer wieder neue Boote neben uns auf – erst eines, dann ein anderes, zwei, drei, vier …  Es war schier unmöglich, sich um alle Menschen zu kümmern und einen Überblick über Bedarfe zu behalten. Da die Astral langsam in Richtung Lampedusa weiterfuhr und die Ocean Viking am Horizont auftauchte, schickten wir Boote mit funktionierendem Motor und versorgt mit Rettungswesten in deren Richtung und waren unglaublich glücklich über die ganztägige Zusammenarbeit mit verschiedenen Einheiten der zivilen Flotte.

 

Nadir_Beiboot_sowie_Boote_in_Seenot
Open_Arms_am_Horizont

Photos: Lucia Gennari

MENSCHEN AN (IHREN) GRENZEN

Menschen an Bord zu haben, ist häufig eine emotionale Achterbahnfahrt. Vor dem An-Bord-Nehmen schickt das Beiboot Informationen über die Evakuierten an die Nadir, damit  Mediziner*innen und Gästebetreuung wissen, worauf sie sich vorbereiten müssen. In einem Fall kam die Information über eine vermutlich bewusstlose Person, die auf dem Weg zum Mutterschiff war. Es stellte sich heraus, dass die Person in einer extremen Form von Apathie bewegungs- und reaktionsunfähig war. Diese Art von Zustand ist eine sehr intensive und seltene Reaktion, die infolge von extremem Stress oder Traumata eintreten kann. Die Person hat sich glücklicherweise erholen können und berichtete später von ihren Erfahrungen.

Auf der anderen Seite erleben wir mit den Menschen auf dem Schiff auch erheiternde Momente. Die Stimmung und die Stärke der Gruppe von 54 Personen nach Erstversorgung war absolut einzigartig.  Die Leute machten Witze, küssten sich, umarmten unsere Regenbogenflagge, sangen und teilten ihre Träume und Erfahrungen. Wir schlossen neue Freundschaften und einige von uns phantasierten sogar davon, bald gemeinsam auf die PRIDE-Parade in Berlin zu gehen.

Der Tag endete surreal. Im Sonnenuntergang, singend und begleitet von Delphinen erreichten wir Lampedusa. Wir machten am Anlandungssteg fest, wo die Fähre normalerweise ihre Autorampe absenkt. Ein, zwei Stunden verweilten wir ohne das jemand erschien. Wir waren alle sehr müde und verstehen, dass die Zahl der Ankünfte in Lampedusa sich in 2023 mindestens verdoppelt hat und alle offiziellen Stellen an ihren Grenzen agieren. Aber nach Tagen auf hoher See es ist unerträglich, auf den leeren Pier zu starren, ohne einen Fuß darauf setzen zu dürfen. Auch Stunden später, als wir schließlich an Land gehen konnten, standen unsere vorherigen Gäste ganz alleine auf dem Pier in einer Reihe und warteten Stunden darauf, dass ein Bus kommt und sie abholt. Niemand war da, um Fragen zu beantworten. Das sind die ersten Eindrücke, die Europa bei Menschen, die die Mittelmeerpassage überleben hinterlässt. Herzlich willkommen.

Kurz bevor die Behörden vier Stunden später eintreffen, kommt ein Eisenboot fast so lang wie die Nadir selbst im Hafen längsseits und eine Gruppe von Menschen versucht in Aufregung, auf das kleine Segelschiff zu klettern. Die Aufregung steigt auch bei uns, denn die kleinen Nussschalen kentern viel zu leicht. Es dauert einen Moment, bis alles unter Kontrolle und die Aufregung gebremst ist. Dank der schnellen Reaktion unserer Crew und ihrer Fähigkeit, die Menschen auf unserem Schiff und frisch angekommene Boot zu beruhigen, konnten wir so gerade eine weitere Tragödie – direkt im Hafen Lampedusas – verhindern.

Nadir_beim_Anlegen_in_Lampedusa

ILLEGALE RÜCKFÜHRUNGEN – NON-REFOULE..? – WHO CARES

Nachdem wir viel Zeit auf dem tunesischen Korridor verbracht hatten fuhren wir nach Süden. Vormittags wurde von der Notruf-Hotline Alarmphone ein Seenotfall in der maltesischen Such- und Rettungsregion gemeldet, der kurz darauf von einer Frontex-Lufteinheit bestätigt wurde. Wir machten uns auf den Weg und begegneten unterwegs schnell einem ersten Boot und später einem Weiteren. Die Insass*innen des ersten Eisenbootes erzählten uns, dass sie bereits vier Tage auf See verbracht hatten und hoben immer wieder Babys hoch, um die Notwendigkeit von Hilfe zu betonen. Also hielten wir wieder an, verteilten Schwimmwesten und Wasser und holten eine Mutter mit zwei Kindern auf die Nadir, da die zweijährige Tochter chemische Verbrennungen hatte. Kinder sitzen normalerweise in der Mitte des Bootes, wo Salzwasser und Benzin eine giftige Mischung bilden und schmerzhafte Verätzungen auf der Haut verursachen. Fünf Stunden später gingen alle 40 Menschen, inklusive der frisch geduschten Kinder und zwei neuen Kuscheltieren, an Bord eines CP der italienischen Küstenwache.

Wir sammelten unsere Rettungswesten ein und setzten unsere Fahrt Richtung Süden fort, als uns ein Notruf über Funk erreichte. Ein Fischer meldete das kleine Holzboot, das schnell näher kam und bald eine eher kleine Gruppe von 19 Personen, darunter sieben Kinder, enthüllte. Nach einer kurzen Begutachtung entschieden wir, alle an Bord zu nehmen, nicht zuletzt, weil ein Baby zu sehr der Sonne ausgesetzt war und wir uns Sorgen um dessen Zustand machten. Auf die Zuweisung eines sicheren Hafens wartend fuhren wir weiter in Richtung des gemeldeten Notfalls. Es dauerte nicht lange, bis wir Sea-Watch Airborne’s Seabird2 über Funk hörten. Sie adressierten ein libysches Schiff und skizzierten die Rechtsprechung um das ‚Non-Refoulement’ Gebot und die Verpflichtung, Menschen an den nächsten sicheren Ort zu bringen.

Obwohl Menschen wohl aus Angst vor den libyschen Milizen ins Wasser sprangen, wurde das Boot in der maltesischen SAR (Such- und Rettungsregion) abgefangen und die Menschen illegal zurück nach Libyen verschleppt. Das Wissen über NGO-Schiffe in der Nähe und die Tatsache, dass sich das in Seenot geratene Boot über etliche Stunden in maltesischem Zuständigkeitsbereich befand, konnte nicht verhindern, dass dieses Boot – Mithilfe materieller Unterstützung von EU-Mitgliedstaaten sowie der Zusammenarbeit von Italien und Malta mit der sogenannten Libyschen Küstenwache – abgefangen wurde. Wir waren zu spät. Voller Wut und Traurigkeit änderten wir den Kurs und brachten unsere geduldigen tunesischen Freund*innen jetzt endlich Richtung Lampedusa, wo uns kurz darauf auch ein sicherer Hafen zugewiesen wurde.

Tender_Rettungswesten

Dieser kleine Rückblick ist eine Sammlung unserer Eindrücke von 14 Tagen auf See. Mit bleibender Bewunderung schauen wir auf die Stärke und den Mut der Überlebenden und wie viel Kraft sie uns für diese Arbeit geben. Wir sind voller Wut und zeigen mit erhobenem Finger auf die europäischen Institutionen und das Grenzregime, das mit Externalisierungsstrategien und Ausbeutungspolitik mindestens eine Mitverantwortung für die  ständig steigenden Todesfälle und Menschenrechtsverletzungen tragen. Wir weisen darauf hin, dass die Kriminalisierung von Menschen auf der Flucht und Sabotage von zivilen Rettungsbemühungen einen großen Anteil an der schrecklichen Realität haben, die wir täglich auf dem Mittelmeer beobachten. Europa, du hast Blut an deinen Händen. Wir werden niemals aufhören zu kämpfen, bis die Bewegungsfreiheit für alle garantiert ist.

 

 

Fotos: Lucia Gennari und Jelka Kretzschmar

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