Crew der Nadir versorgt 210 Menschen in Seenot

von Lukas Kaldenhoff, Crew-Mitglied auf der Nadir:   

14 ereignisreiche Tage liegen hinter der Crew auf der siebten Mission der Nadir. In nur 36 Stunden konnten drei Boote mit insgesamt 210 Menschen gefunden und erstversorgt werden, bis die italienische Küstenwache zur Unterstützung kam. Darüber hinaus war die Crew in stundenlange Suchaktionen nach weiteren Seenotfällen verwickelt und dokumentierte einen illegalen Pushback nach Libyen.

In den letzten Oktobertagen kam auf Malta die sechsköpfige Crew für die siebte und letzte Beobachtungsmission der Nadir in diesem Jahr zusammen. Nach dreitägigem Hafenaufenthalt, kleineren Arbeiten am Schiff und negativen Coronatests liefen wir am 3. November in Richtung zentrales Mittelmeer aus.

Nachdem wir zwei Tage später das Einsatzgebiet an der südlichen Grenze der maltesischen SAR-Zone erreichten, dauerte es nur wenige Stunden, bis wir die Suche nach dem ersten Seenotfall aufnahmen. Ein überfülltes Fiberglasboot mit rund 30 Menschen an Bord trieb manövrierunfähig in der Nähe eines stillgelegten Ölfelds in internationalen Gewässern.

Pushback nach Libyen dokumentiert

Als wir am nächsten Tag im Morgengrauen die letzte bekannte Position der Menschen erreichten, konnten wir kein Boot entdecken. Auf der nahegelegenen, stillgelegten Ölplattform Didon fanden wir lediglich zurückgelassene Rettungswesten und Wasserflaschen. Kurz darauf erreichte uns die Information, dass die sogenannte libysche Küstenwache in der Nacht 30 Menschen auf der Flucht von besagter Position zurück nach Libyen gebracht hat – ein weiterer illegaler Pushback in das nordafrikanische Bürgerkriegsland.

Ölplattform-Mittelmeer-Resqship-Mission

Für die kommenden Tage sollten wir das einzige zivile Schiff im zentralen Mittelmeer sein. Die Sea-Eye 4 sowie die Ocean Viking hatten kurz zuvor mehrere Rettungen durchgeführt und waren bereits auf dem Weg nach Norden, um einen sicheren Hafen ansteuern zu können. Dass sich auch ohne die Präsenz größerer Rettungsschiffe Menschen auf lebensgefährliche Überfahrt nach Europa begeben, sollten in den kommenden Tagen einmal mehr deutlich werden.

Zahlreiche Seenotfälle, stundenlange Suchaktionen

Dank der Aufklärungsflüge der von Sea-Watch betriebenen Sea-Bird und den Informationen von Alarmphone wissen wir von mindestens neun seeuntauglichen Booten mit Geflüchteten an Bord, die zwischen dem 6. und dem 9. November das Mittelmeer überquerten. In diesem Zeitraum war unsere Crew an Suchaktionen nach mehrerer dieser Fälle beteiligt, unter anderem nach einem großen Holzboot mit über 380 Menschen und einem kleineren mit etwa 40 Menschen an Bord.

Trotz stundenlanger Suche, angestrengten Blicken durchs Fernglas und regelmäßig aktualisierten Positionsmeldungen konnten wir die Boote nicht finden. Umso erleichterter waren wir von der Nachricht, dass beide Boote in den Folgetagen eigenständig Lampedusa erreichten.

Besonders dramatisch entwickelte sich der Nachmittag des 9. Novembers. Mindestens fünf Boote gerieten zu dieser Zeit südlich von Lampedusa in Seenot. Bereits gegen 10 Uhr morgens sichteten wir ein blaues Holzboot mit 50 bis 60 Menschen an Bord. Es war stark überfüllt und nicht seetauglich, weshalb wir sofort mit einem Mayday Relay die zuständigen europäischen Behörden alarmierten. Diese blieben untätig – auch nachdem wir sie kurz darauf informierten, dass der Sichtkontakt zu dem Boot, das sich noch eigenständig mit bis zu 8 Knoten fortbewegte, abgerissen war.

Zugleich informierten Sea-Bird und Alarmphone über zwei weitere Seenotfälle, die sich mit Motorproblemen in unmittelbarer Nähe der Nadir befanden. Sofort nahmen wir die Suche auf, konnten jedoch lediglich eine leeres graues Holzboot ausfindig machen. Gegen 18 Uhr mussten wir den Einsatzort verlassen, da ein heftiger Sturm das Meer aufpeitschte. Bei drei Meter hohen Wellen und über 30 Knoten Wind erlebten wir eine sehr unruhige Nacht.

leeres-Holzboot-Luftaufnahme-Seawatch

Aus Recherchen im Nachgang der Mission wissen wir, dass an jenem Tag insgesamt 384 Menschen aus sechs Booten in Seenot von italienischen Behörden gerettet und nach Lampedusa gebracht wurden. Wir hoffen, dass darunter auch all die Seenotfälle waren, von denen wir Kenntnis hatten und nach denen wir gesucht haben.

Erstversorgung von 14 Menschen in Seenot

In den folgenden Tagen besserte sich das Wetter. Drei Tage vergingen ruhig und ohne besondere Beobachtungen. Am Nachmittag des 13. Novembers sichteten wir dann in der Nähe des Miskar-Gasfeldes ein kleines, überfülltes Fiberglasboot mit 14 Menschen an Bord.

RESQSHIP-Mission-Einsatz-Seenot-Rettungsweste

Wir näherten uns dem Boot, leisteten den Menschen erste Hilfe und verteilten Rettungswesten. Zudem alarmierten wir mehrfach sowohl die maltesische als auch italienische Seenotleitstelle, ohne eine Reaktion zu erhalten. Da das Boot noch Fahrt machte, begleiteten wir die Menschen in sicherem Abstand Richtung Norden – immer bereit eingreifen zu können, sollte weitere Hilfe erforderlich sein. Gegen Mitternacht erreichte das Boot eigenständig die italienische SAR-Zone. Dort wartete bereits ein Schiff der italienischen Polizei, das die Menschen evakuierte und nach Lampedusa brachte.

Nadir assistiert überfülltem, kentergefährdetem Holzboot

Für uns ging es anschließend direkt in den nächsten Einsatz. Ein überfülltes Holzboot mit defektem Motor hatte Alarmphone kontaktiert, die umgehend die zuständigen Behörden in Malta und Italien sowie umliegende Schiffe in Kenntnis setzten. Wir nahmen die Suche nach dem Boot auf – und fanden es gegen 4.30 Uhr. An Bord waren 99 Menschen aus mehr als einem Dutzend verschiedenen afrikanischen Nationen, unter ihnen sieben Frauen und sechs Kleinkinder.

Holzboot-überfüllt-Seenot-RESQSHIP

Die Lage an Bord war prekär: Zwar gab es keine medizinischen Notfälle, jedoch platzte das Boot aus allen Nähten und war dadurch verstärkt kentergefährdet. Die Dunkelheit erschwerte den Einsatz zusätzlich. Auch hier stabilisierten wir die Situation, versorgten die Menschen und setzten per E-Mail und per Funk ein Mayday Relay ab. Dieses Mal reagierte die italienische Küstenwache schnell und kooperativ: Sie schickte zwei Schiffe mit entsprechenden Rettungskapazitäten, die gegen 6.30 Uhr eintrafen und die Menschen an Bord nahmen. 45 Minuten später war die Rettung abgeschlossen.

Rettung-italienische-Küstenwache-nachts

Drei Boote in 30 Minuten

Ruhig blieb es nur für ein paar Stunden. Um 14 Uhr sichteten wir in der maltesischen SAR-Zone ein Holzboot, fast identisch dem aus der Nacht zuvor. Als wir uns den Menschen näherten, entdeckten wir zwei weitere verdächtige Punkte am Horizont. Einer davon stellte sich schnell als leeres Holzboot heraus. Der andere Punkt dagegen war tatsächlich ein weiteres Boot mit Menschen in Seenot, wie uns die Sea-Bird, die uns kurz darauf überflog, bestätigte.

Als einziges Schiff in der Umgebung waren wir in einem Dilemma. Wir informierten die Behörden Maltas und Italiens über die beiden Seenotfälle, mussten jedoch dabei zusehen, wie der Punkt am Horizont immer kleiner wurde und verschwand. Währenddessen hatten wir alle Hände voll mit der Versorgung des ersten Bootes zu tun. 95 Menschen waren an Bord, sie befanden sich bereits seit drei Tagen auf See. Die Situation an Bord war äußerst unruhig, zudem funktionierte der Motor nur unregelmäßig.

ItalienischeKüstenwache-Evakuierung-Holzboot-nachts

Wir versuchten die Behörden davon zu überzeugen, dass sie die Menschen unbedingt retten müssen, weil die Nadir für so viele Personen nur die Erstversorgung und nicht die Aufnahme an Bord gewährleisten könne. Zunächst ohne Erfolg: Italien verwies auf Malta, Malta ging gar nicht erst ans Telefon. Wie aus dem Nichts tauchte dann doch kurz nach Sonnenuntergang ein Boot der italienischen Küstenwache auf. Nach einer guten halben Stunde waren alle Menschen von Bord des Holzbootes evakuiert und sicher auf dem Weg nach Lampedusa.

Leere Boote auf dem Rückweg nach Malta

Direkt im Anschluss begaben wir uns auf die Suche nach dem Boot, das zuvor am Horizont verschwunden war. Sieben Stunden lang hielten wir intensiv danach Ausschau und fuhren ein akribisches Suchmuster, das die letzte bekannte Position sowie vermutete Folgepositionen erschloss. Um drei Uhr morgens beendeten wir die Suche, ohne jede Spur des Bootes oder der Menschen. Da wir jedoch am Morgen über ein leeres Holzboot im Suchgebiet informiert wurden, dessen Angaben auf das gesuchte Boot vom Vortag zutrafen, gehen wir davon aus, dass auch diese Menschen gerettet wurden.

Nach 13 Tagen auf See nahmen wir wieder Kurs auf Malta. Auf dem Weg zurück entdeckten wir ein weiteres leeres, sechs Meter langes Holzboot. Menschen waren keine mehr an Bord, nur zurückgelassene Habseligkeiten und Benzinkanister. Wir meldeten das Boot den italienischen Behörden und setzten unseren Rückweg fort. Am Vormittag des 17. Novembers erreichten wir unseren maltesischen Zielhafen.

Winterpause nach sieben erfolgreichen Missionen

Seit Juni dieses Jahres konnte RESQSHIP mit der Nadir über 1.250 Menschen, die im zentralen Mittelmeer in Seenot geraten waren, versorgen. All diese Menschen konnten in einem sicheren Hafen in Europa an Land gehen. Ohne die Präsenz der Nadir und ihrer Crews wären sie vermutlich ertrunken oder illegal nach Libyen zurückgeführt worden. Das zeigt, wie wichtig zivile Schiffe sind, die das Seegebiet im zentralen Mittelmeer überwachen.

Auch im kommenden Jahr wollen wir wieder mit der Nadir auf der tödlichsten Fluchtroute der Welt aktiv sein, um der gefährlichen und oft dramatischen Situation entgegenzuwirken. Die nun anstehende Missionspause über die Wintermonate wollen wir nutzen, um ausstehende Reparaturen am Schiff vorzunehmen und uns bestmöglich auf die Einsätze 2022 vorzubereiten. 

Damit wir unsere Beobachtungsmissionen zeitnah wieder aufnehmen können, sind wir auf eure Spenden angewiesen. Über unsere Spendenseite oder auf Betterplace kannst du uns finanziell unterstützen und die Wiederaufnahme unserer Einsätze sichern. Danke!

Fotos: Lars Hermes, außer Luftbild: Sea-Watch

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