Einsatz in stürmischen Zeiten: Triage, Trauer und Solidarität

von Paula Gaess, Crew-Mitglied auf der Nadir auf Mission 7/2023 (September):   

Der siebte Einsatz der Nadir in diesem Jahr war geprägt von Sturm Daniel, der über den Mittelmeerraum fegte und die Abfahrten von den nordafrikanischen Küstenregionen verzögerte. Nachdem sich das Meer dann wieder beruhigt hatte, brachen umso mehr Leute auf: Am 12. September erreichten über 6.000 Menschen Lampedusa innerhalb eines Tages. Inmitten dieser ambivalenten Zeit konnte die Crew der Nadir in nur wenigen Tagen im Einsatzgebiet rund 534 Menschen auf 12 Booten in Seenot unterstützen.

Wegen wichtigen Reparaturen an Bord der Nadir startete unser Einsatz etwas verspätet. Voller Tatendrang absolvierten wir unser Training und begaben uns in das Einsatzgebiet. Vom ersten Tag an wurde die See täglich rauer, der Wind nahm zu und uns wurde schnell bewusst, dass sich nicht viele Menschen bei derartigen Wetterbedingungen auf den Weg machen. Doch auch in diesen Zeiten bleibt die Fluchtroute sichtbar. Wir sahen knapp ein Dutzend leere Boote innerhalb von 24 Stunden. Die fehlenden Rettungs-Kennzeichen lassen uns nur ahnen, was mit den Menschen darin geschah – seit Beginn des Jahres wurden mindestens 40 000 Menschen von der tunesischen Küstenwache illegal zurückgeführt.  

 

Rettung im letzten Augenblick  

 

Nichtdestotrotz trafen wir am dritten Tag auf See gleich auf mehrere Boote. Bereits früh am Morgen begegneten wir einem Boot mit 46 Menschen an Bord. Wir begleiteten sie über Stunden hinweg in Richtung Italien, bis die italienische Küstenwache kam, um die Menschen zu retten. Aus Sorge, dass kein Boot diese Nacht unter zunehmendem Wind und Wellen heil überstehen würde, hielten wir weiter Ausschau im Einsatzgebiet. Wenig später tauchten drei Punkte am Horizont auf – Boote mit Geflüchteten an Bord. Wir näherten uns dem ersten Boot: 44 Menschen, darunter sechs Frauen, zwei Babys und ein Kleinkind. Sie erhielten Rettungswesten von uns und wir begaben uns gemeinsam mit dem Boot zum nächsten Seenotfall, nur wenige hundert Meter entfernt – weitere 41 Menschen. Die immer höher werdenden Wellen drangen bereits in das Boot ein. Wir stabilisierten es und informierten die Behörden, die sich bereits auf dem Weg befanden.  Als ein weiteres Boot am Horizont auftauchte, kam glücklicherweise die Mare*Go der NGO Zusammenland zur Unterstützung und kümmerte sich um das dritte Boot. Zwei Schiffe der italienischen Küstenwache und Guardia di Finanza näherten sich wenig später – die Erleichterung war groß. Doch während das zweite Boot mit 41 Menschen an Bord von der Küstenwache geborgen wurde, sank das instabile Metallboot innerhalb von Sekunden und ein Dutzend Menschen befanden sich im Wasser. Glücklicherweise hatten alle zuvor Rettungswesten von uns erhalten und es gelang der Küstenwache, sie zu retten. Auch die Menschen, die von der Mare*Go betreut wurden, nahm die Küstenwache mit nach Lampedusa. Für uns hieß es nun, auch zur Insel zurückzukehren, um Schutz vor dem Wetter zu suchen. 

Geflüchtete_von_hinten_an_Bord
 

Während Sturm Daniel über dem Mittelmeerraum tobte, nutzten wir auf Lampedusa die Gelegenheit, um uns mit unseren Partner-NGOs auszutauschen. Wir trafen die Crew von Pilotes Volontaires, von Seabird und Aurora der NGO Sea Watch, sprachen mit Open-Arms und konnten unsere Erfahrungen mit Maldusa teilen. Ganze vier Tage suchten wir im Schatten Lampedusas Schutz, bis der Sturm weiter nach Osten zog.

Als wir am Mittag des 9. Septembers wieder in See stachen, freuten wir uns über die Nachricht, dass ein neues NGO-Schiff – die Sea Punk 1 – zum ersten Mal im Einsatzgebiet sein würde. Am nächsten Tag konnten wir bei einem gemeinsamen Einsatz 44 Menschen retten und sicher an Bord der Sea Punk 1 bringen, darunter 16 Minderjährige, sechs Frauen und ein Baby. Kurz darauf wurden die Menschen wurden von der italienischen Küstenwache an Bord genommen. 

40 Menschen vermisst    

Nicht viel später stießen wir auf ein weiteres Metallboot, an Bord 44 Männer und eine Frau. Die Menschen waren sichtlich aufgebracht, sie erzählten uns, dass sie Stunden zuvor ein gekentertes Boot gesehen hätten. Alle Menschen seien im Wasser geschwommen und hätten nach Hilfe gerufen. Wir versuchten zu rekonstruieren, wo in etwa das Schiffsunglück stattgefunden haben sollte und informierten die Sea Punk 1, wie auch die zuständigen Behörden über das verunglückte Boot. Neben der Sea Punk 1 begab sich auch das Frontex-Aufklärungsflugzeug Osprey 2  auf die Suche – leider erfolglos  

Wir begleiteten das Boot neben uns, bis uns die pechschwarze Nacht zwang, die Menschen an Bord zu nehmen. Nicht Wenige sprachen mit uns über das, was sie bezeugen mussten. Einige kannten die Menschen, die sich im Wasser befunden hatten, da die zwei Boote etwa zur gleichen Zeit von Tunesien aus gestartet waren.  

Kurz nach Mitternacht erreichten wir Lampedusa, unsere Gäste durften allerdings erst am frühen Morgen an Land gehen, da zuerst die Überlebenden von den Schiffen der Küstenwache anlandeten. Es waren bereits die ersten Vorzeichen der nächsten Tage: eine ungewöhnlich hohe Zahl an ankommenden Booten.

Boot_mit_Geflüchteten_am_Horizont

Triage, 239 Menschen und ein Frachtschiff 

Mit dem Ziel, möglichst schnell ins Einsatzgebiet zurückzukehren, verließen wir in der nächsten Nacht gegen zwei Uhr wieder Lampedusa. Doch wir kamen nicht weit: Die Insel war noch in Sicht, als wir auf ein Boot mit etwa 50 Menschen an Bord trafen. Wir begleiteten es in den Hafen Lampedusas und fuhren direkt wieder los. Doch auch beim zweiten Mal kamen wir keine Meile weiter – wir fanden ein weiteres Boot mit 36 Menschen an Bord und ohne funktionierenden Motor. Gemeinsam mit dem Boot beobachteten wir, wie mit Sonnenaufgang dutzende Boote um uns herum sichtbar wurden. Unzählige Menschen befanden sich bereits am Morgen des 12. September vor dem Hafen Lampedusas.  

Nadir_Beiboot_sowie_Boote_in_Seenot
Open_Arms_am_Horizont
Als ein Schiff der Guardia di Finanza die Menschen übernahm, beschlossen wir, nicht die gewöhnliche Route Richtung Einsatzgebiet zu nehmen, sondern einen südlicheren Kurs zu wählen, in ein Gebiet, in dem die Küstenwache weniger präsent sein würde, da es außerhalb der italienischen Such- und Rettungszone liegt. Die Wahrscheinlichkeit, dort auf Seenotfälle zu treffen, die bisher von den Behörden übersehen wurden, war sehr groß – dies zeichnete den Beginn einer Triage-Situation. Per Funk wurden minütlich Seenotfälle gemeldet: Flugzeuge und Fischer gaben eine Position nach der anderen durch. Gegen Mittag fanden wir ein Boot, das orientierungslos in der maltesischen Such und Rettungszone fuhr, abgekommen vom Kurs. Unter den Insass*innen  befanden sich zwei Kleinkinder und mehrere Frauen. Wir verteilten Rettungswesten sowie Wasser und nahmen am Horizont zwei weitere Boote wahr, die sich nicht mehr bewegten – insgesamt 66 Menschen. Eines der Boote hatte zuvor das andere gezogen, bis sich die Schleppleine in der Schraube verfing, weshalb sie nicht mehr vorankamen. Nur kurz nachdem wir in Begleitung des ersten Bootes die manövrierunfähigen Boote mit der Nadir erreicht hatten, näherte sich ein viertes Boot mit 53 Menschen an Bord, darunter mehrere Kinder. Wir entschieden, alle Kinder und ihre Eltern auf die Nadir zu holen, da unsere Ärzt*innen vermuteten, dass mehrere Kinder unter chemischen Verbrennungen litten, verursacht durch eine ätzende Mischung aus Benzin und Salzwasser. Kurz nach der Evakuierung erreichte uns ein weiteres Boot mit über 70 Menschen an Bord. Zu diesem Zeitpunkt sammelten sich insgesamt 239 Menschen um und auf der Nadir.  
Nadir_beim_Anlegen_in_Lampedusa
Da von der italienischen Küstenwache keine Hilfe zu erwarten war, zumal sie selbst über 40 Seenotfälle bearbeiteten, riefen wir das Frachtschiff BBC EDGE über Funk an, dass sich wenige Meilen von uns entfernt fand. Kurze Zeit später erschien es am Horizont. Über Stunden hinweg brachten wir die Menschen an Bord des Frachtschiffs, sodass sich schlussendlich über 186 Überlebende an Bord der BBC EDGE auf den Weg nach Salerno machten, was ihnen als sicheren Hafen zugewiesen wurde. Zwar ist das Hilfeleisten in Seenotfällen gesetzlich vorgeschrieben, jedoch kommen Handelsschiffe dieser Pflicht oft nicht nach und ignorieren Notfälle. Umso dankbarer sind wir der BBC EDGE dafür, dass sie an der Rettung der 240 Menschen mitgewirkt hat. 

53 Menschen nahmen wir an Bord der Nadir, um medizinische Fälle und insbesondere die Kinder versorgen zu können. Gegen neun Uhr abends begaben wir uns auf den Weg und erreichten die Insel Lampedusa wieder kurz nach Mitternacht.

Tender_Rettungswesten

Lampedusa, 12. September 

Während wir stundenlang darauf warteten, dass die Menschen von Bord der Nadir gehen konnten, erfuhren wir später, dass gegen 4:18 Uhr, nur wenige Meter von uns entfernt ein ankommendes Boot im Hafen gekentert war. Ein Baby konnte nur noch tot aus dem Wasser geborgen werden, alle anderen Passagiere überlebten.  

Innerhalb eines Tages kamen über 6.000 Menschen auf der Insel an – mehr Menschen als Einwohner auf der Insel. Lampedusa sah am 12. September anders aus. Die Geflüchteten konnten nicht im Hotspot der Insel versteckt werden. Sie waren sichtbar, standen an den Stegen, warteten auf Busse, auf Fähren, immer wieder kamen neue Boote in den Hafen gefahren. Die Nadir lag nach dem Einsatz vor Anker und wir beobachteten das Geschehen. Gegenüber von uns wurden ankommende Menschen auf einem Steg zusammengedrängt, von der Polizei mit Schlagstöcken bedroht, die Sonne brannte und die Menschen sprangen verzweifelt ins Wasser, schwammen zu uns rüber, fragten nach Wasser. NGOs durften keine Hilfe leisten, nicht mal das rote Kreuz durfte zu den Überlebenden. Nebenan sonnten sich die Sommertouristen oder fuhren mit kleinen Schnellbooten zum refugee-seeing raus, um Bilder von den ankommenden Booten zu machen. Der Stadtrat Lampedusas rief den Notstand aus. Es war ein Bild der Ohnmacht und Ernüchterung, wie Überlebende hier in Europa ankommen. 

Für uns war an dem Tag der Einsatz vorbei und wir begaben uns zurück nach Malta. Über die Medien verfolgten wir, wie die Zivilbevölkerung Lampedusas die kommenden Tage ihre Türen öffnete, um die Menschen zu verpflegen, die aus dem völlig überfüllten Hotspot geflohen waren. Wieder einmal zeigte sich, dass Solidarität die stärkste Waffe gegen Abschottung und Hass ist. Wir beobachteten auch, wie Meloni und Von der Leyen für drei Stunden nach Lampedusa reisten, um die starke Hand Europas zu beschwören. Wir nahmen wahr, wie in Deutschland die Debatte kippte und plötzlich alle Regierungsparteien stärkere Abschiebungsmaßnahmen forderten. Wir sahen außerdem die verheerenden Folgen von Sturm Daniel, die schockierenden Bilder aus Libyen und die unfassbar hohen Todeszahlen.  

Der siebte Einsatz markiert einen Höhepunkt, der sich über die vergangenen Monate zugespitzt hatte – ein Höhepunkt des politischen Versagens. Dass ausgerechnet die kleine Insel Lampedusa zum Symbol dieses Versagens wird, ist in diesem Sinne paradox, da es doch noch einer der wenigen Orte ist, an denen staatliche Seenotrettung versucht wird. Doch die Mittel aus Rom sowie der politische Wille fehlen an allen Ecken und Enden, und so ist es keineswegs überraschend, was sich am 12. September in Lampedusa ereignete. 

 

Fotos: Paula Gaess, Kommunikationskoordinatorin auf der Nadir 

 

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