Der siebte Einsatz der Nadir in diesem Jahr war geprägt von Sturm Daniel, der über den Mittelmeerraum fegte und die Abfahrten von den nordafrikanischen Küstenregionen verzögerte. Nachdem sich das Meer dann wieder beruhigt hatte, brachen umso mehr Leute auf: Am 12. September erreichten über 6.000 Menschen Lampedusa innerhalb eines Tages. Inmitten dieser ambivalenten Zeit konnte die Crew der Nadir in nur wenigen Tagen im Einsatzgebiet rund 534 Menschen auf 12 Booten in Seenot unterstützen.
Rettung im letzten Augenblick
Nichtdestotrotz trafen wir am dritten Tag auf See gleich auf mehrere Boote. Bereits früh am Morgen begegneten wir einem Boot mit 46 Menschen an Bord. Wir begleiteten sie über Stunden hinweg in Richtung Italien, bis die italienische Küstenwache kam, um die Menschen zu retten. Aus Sorge, dass kein Boot diese Nacht unter zunehmendem Wind und Wellen heil überstehen würde, hielten wir weiter Ausschau im Einsatzgebiet. Wenig später tauchten drei Punkte am Horizont auf – Boote mit Geflüchteten an Bord. Wir näherten uns dem ersten Boot: 44 Menschen, darunter sechs Frauen, zwei Babys und ein Kleinkind. Sie erhielten Rettungswesten von uns und wir begaben uns gemeinsam mit dem Boot zum nächsten Seenotfall, nur wenige hundert Meter entfernt – weitere 41 Menschen. Die immer höher werdenden Wellen drangen bereits in das Boot ein. Wir stabilisierten es und informierten die Behörden, die sich bereits auf dem Weg befanden. Als ein weiteres Boot am Horizont auftauchte, kam glücklicherweise die Mare*Go der NGO Zusammenland zur Unterstützung und kümmerte sich um das dritte Boot. Zwei Schiffe der italienischen Küstenwache und Guardia di Finanza näherten sich wenig später – die Erleichterung war groß. Doch während das zweite Boot mit 41 Menschen an Bord von der Küstenwache geborgen wurde, sank das instabile Metallboot innerhalb von Sekunden und ein Dutzend Menschen befanden sich im Wasser. Glücklicherweise hatten alle zuvor Rettungswesten von uns erhalten und es gelang der Küstenwache, sie zu retten. Auch die Menschen, die von der Mare*Go betreut wurden, nahm die Küstenwache mit nach Lampedusa. Für uns hieß es nun, auch zur Insel zurückzukehren, um Schutz vor dem Wetter zu suchen.
Während Sturm Daniel über dem Mittelmeerraum tobte, nutzten wir auf Lampedusa die Gelegenheit, um uns mit unseren Partner-NGOs auszutauschen. Wir trafen die Crew von Pilotes Volontaires, von Seabird und Aurora der NGO Sea Watch, sprachen mit Open-Arms und konnten unsere Erfahrungen mit Maldusa teilen. Ganze vier Tage suchten wir im Schatten Lampedusas Schutz, bis der Sturm weiter nach Osten zog.
Als wir am Mittag des 9. Septembers wieder in See stachen, freuten wir uns über die Nachricht, dass ein neues NGO-Schiff – die Sea Punk 1 – zum ersten Mal im Einsatzgebiet sein würde. Am nächsten Tag konnten wir bei einem gemeinsamen Einsatz 44 Menschen retten und sicher an Bord der Sea Punk 1 bringen, darunter 16 Minderjährige, sechs Frauen und ein Baby. Kurz darauf wurden die Menschen wurden von der italienischen Küstenwache an Bord genommen.
40 Menschen vermisst
Nicht viel später stießen wir auf ein weiteres Metallboot, an Bord 44 Männer und eine Frau. Die Menschen waren sichtlich aufgebracht, sie erzählten uns, dass sie Stunden zuvor ein gekentertes Boot gesehen hätten. Alle Menschen seien im Wasser geschwommen und hätten nach Hilfe gerufen. Wir versuchten zu rekonstruieren, wo in etwa das Schiffsunglück stattgefunden haben sollte und informierten die Sea Punk 1, wie auch die zuständigen Behörden über das verunglückte Boot. Neben der Sea Punk 1 begab sich auch das Frontex-Aufklärungsflugzeug Osprey 2 auf die Suche – leider erfolglos
Wir begleiteten das Boot neben uns, bis uns die pechschwarze Nacht zwang, die Menschen an Bord zu nehmen. Nicht Wenige sprachen mit uns über das, was sie bezeugen mussten. Einige kannten die Menschen, die sich im Wasser befunden hatten, da die zwei Boote etwa zur gleichen Zeit von Tunesien aus gestartet waren.
Kurz nach Mitternacht erreichten wir Lampedusa, unsere Gäste durften allerdings erst am frühen Morgen an Land gehen, da zuerst die Überlebenden von den Schiffen der Küstenwache anlandeten. Es waren bereits die ersten Vorzeichen der nächsten Tage: eine ungewöhnlich hohe Zahl an ankommenden Booten.
Triage, 239 Menschen und ein Frachtschiff
Mit dem Ziel, möglichst schnell ins Einsatzgebiet zurückzukehren, verließen wir in der nächsten Nacht gegen zwei Uhr wieder Lampedusa. Doch wir kamen nicht weit: Die Insel war noch in Sicht, als wir auf ein Boot mit etwa 50 Menschen an Bord trafen. Wir begleiteten es in den Hafen Lampedusas und fuhren direkt wieder los. Doch auch beim zweiten Mal kamen wir keine Meile weiter – wir fanden ein weiteres Boot mit 36 Menschen an Bord und ohne funktionierenden Motor. Gemeinsam mit dem Boot beobachteten wir, wie mit Sonnenaufgang dutzende Boote um uns herum sichtbar wurden. Unzählige Menschen befanden sich bereits am Morgen des 12. September vor dem Hafen Lampedusas.
53 Menschen nahmen wir an Bord der Nadir, um medizinische Fälle und insbesondere die Kinder versorgen zu können. Gegen neun Uhr abends begaben wir uns auf den Weg und erreichten die Insel Lampedusa wieder kurz nach Mitternacht.
Lampedusa, 12. September
Während wir stundenlang darauf warteten, dass die Menschen von Bord der Nadir gehen konnten, erfuhren wir später, dass gegen 4:18 Uhr, nur wenige Meter von uns entfernt ein ankommendes Boot im Hafen gekentert war. Ein Baby konnte nur noch tot aus dem Wasser geborgen werden, alle anderen Passagiere überlebten.
Innerhalb eines Tages kamen über 6.000 Menschen auf der Insel an – mehr Menschen als Einwohner auf der Insel. Lampedusa sah am 12. September anders aus. Die Geflüchteten konnten nicht im Hotspot der Insel versteckt werden. Sie waren sichtbar, standen an den Stegen, warteten auf Busse, auf Fähren, immer wieder kamen neue Boote in den Hafen gefahren. Die Nadir lag nach dem Einsatz vor Anker und wir beobachteten das Geschehen. Gegenüber von uns wurden ankommende Menschen auf einem Steg zusammengedrängt, von der Polizei mit Schlagstöcken bedroht, die Sonne brannte und die Menschen sprangen verzweifelt ins Wasser, schwammen zu uns rüber, fragten nach Wasser. NGOs durften keine Hilfe leisten, nicht mal das rote Kreuz durfte zu den Überlebenden. Nebenan sonnten sich die Sommertouristen oder fuhren mit kleinen Schnellbooten zum refugee-seeing raus, um Bilder von den ankommenden Booten zu machen. Der Stadtrat Lampedusas rief den Notstand aus. Es war ein Bild der Ohnmacht und Ernüchterung, wie Überlebende hier in Europa ankommen.
Der siebte Einsatz markiert einen Höhepunkt, der sich über die vergangenen Monate zugespitzt hatte – ein Höhepunkt des politischen Versagens. Dass ausgerechnet die kleine Insel Lampedusa zum Symbol dieses Versagens wird, ist in diesem Sinne paradox, da es doch noch einer der wenigen Orte ist, an denen staatliche Seenotrettung versucht wird. Doch die Mittel aus Rom sowie der politische Wille fehlen an allen Ecken und Enden, und so ist es keineswegs überraschend, was sich am 12. September in Lampedusa ereignete.
Fotos: Paula Gaess, Kommunikationskoordinatorin auf der Nadir
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