Crew im Dauereinsatz – rund 400 Menschen in Seenot auf elf Booten

von Paula Gaess, Crew-Mitglied auf der Nadir auf Mission 8/2022 (Oktober):  

Auf der achten Beobachtungsmission dieses Jahres im zentralen Mittelmeer konnte unsere Crew der Nadir in elf Einsätzen innerhalb von 16 Tagen rund 400 Menschen in akuter Seenot unterstützen – und in Kooperation mit der italienischen Küstenwache sicher an Land bringen. Bei ihrem letzten Einsatz assistierte unsere Crew drei Booten gleichzeitig, mit insgesamt 134 Menschen. Über 14 Stunden blieb die Unterstützung seitens der zuständigen Behörden aus – die italienische Küstenwache nahm die Menschen schlussendlich an Bord.

Am Morgen des 4. Oktobers verließen wir den Hafen und machten uns auf den Weg in das Einsatzgebiet südlich von Lampedusa. Während sich die wackligen Beine und flauen Mägen langsam an den Seegang gewöhnten, konnten wir die zwei darauffolgenden Tage mit wichtigen Trainings verbringen, wodurch wir gut vorbereitet waren auf den Ernstfall. Dieser ließ nicht lange auf sich warten. Am frühen Morgen des vierten Tages auf See, stießen wir auf ein manövrierunfähiges Boot, welches seit drei Tagen unterwegs war, die Menschen erschöpft, aber sichtlich erleichtert über unser Dasein. Bei spiegelglatter See und einem imposanten Sonnenaufgang näherten wir uns erstmals einem Boot. Ein Bild der Ironie, was sich bei uns eingebrannt hat. 

Boot-Seenot-38-Menschen-Nadir-Resqship-Sonnenaufgang

An Bord befanden sich 38 Menschen, darunter unter anderem eine schwangere Frau und ein Baby, welche wir aus medizinischen Gründen an Bord nahmen. Wir versorgten die Menschen auf dem Boot mit Wasser und Rettungswesten und informierten die zuständigen Behörden. Nach vier Stunden Warten kam Unterstützung aus Italien, um die Menschen abzubergen.

Nach Ende dieses Einsatzes ging es Schlag auf Schlag weiter. Innerhalb der kommenden 36 Stunden unterstützten wir drei weitere Boote mit insgesamt 84 Menschen, die allesamt, mal früher mal später, von der italienischen Küstenwache an Bord genommen wurden. Im Laufe des vierten Einsatzes wurde unser RHIB (Beiboot) durch ein scharfkantiges Boot beschädigt. Auf offener See erfuhr unsere RHIB-Crew, wie es ist, wenn das eigene Boot plötzlich Luft verliert, auch wenn es dadurch nicht sofort zu sinken drohte. Um den Schaden zu beheben und unser RHIB wieder einsatzfähig zu machen, fuhren wir am sechsten Tag auf See nach Lampedusa.

38-Menschen-Seenot-italienische-Küctenwache-Nadir-Resqship

Zurück im Einsatz – im Zickzack-Kurs nach Lampedusa

Kaum waren wir nach unserer zweitägigen Pause wieder auf See, wurde unser Mailpostfach von unzähligen offenen Seenotfällen geflutet. Wir nahmen erstmals Kurs auf die sogenannte libysche SAR-Zone und begaben uns auf die Suche nach einem Boot mit einem dringenden medizinischen Notfall: Eine Frau wäre dabei, ein Kind zu gebähren. Auf unserer Suche stießen wir auf ein Boot mit 28 Menschen, das gut Fahrt machte. Die Insassen erklärten uns, an welcher Stelle sie das andere Boot zuletzt gesehen hatten. In Absprache mit ihnen meldeten wir den italienischen Behörden ihre Position und setzten unsere Suche fort. Wir konnten das andere Boot, trotz fünfstündiger Suche, nie finden. Ob es seinen Weg allein nach Lampedusa gefunden hat, können wir nur hoffen.

Noch am selben Abend stießen wir auf ein Boot, welches das Aufklärungsflugzeug Seabird zuvor gesichtet hatte. An Bord 13 Menschen, darunter eine schwangere Frau und zwei Babys. Nach der Erstversorgung der Menschen beschlossen wir, sie in Richtung Italien zu begleiten. Doch deren Erschöpfung war sichtlich erkennbar: Das Boot stoppte immer wieder abrupt und fuhr uns durch die Nacht hindurch im Zick-Zack-Kurs hinterher. In regelmäßigen Abständen mussten wir die Nadir stoppen und auf das kleine Boot warten. Am frühen Morgen dann der endgültige Stillstand – wenige Meilen vor der italienischen SAR-Zone versagte der Motor des Bootes. Während wir um Unterstützung seitens der zuständigen Behörden kämpften, brachten wir unseren neuen Freunden Kaffee, Tee und Kekse gegen den Hunger. Gegen 10 Uhr morgens kam dann die erleichternde Nachricht: Die italienische Küstenwache sei auf dem Weg. Zwei Stunden später waren die Menschen sicher an Bord des Küstenwachschiffes und auf dem Weg nach Lampedusa, während wir uns erschöpft, aber durchaus sehr froh ins Bett begaben.

13-Menschen-Boot-Seenot-Beiboot-Nadir

Navigationshilfe, Kooperation mit Fischern und ein illegaler Pullback

Da es in den nächsten Tagen stürmen sollte, suchten wir auf Lampedusa Schutz vor dem Wetter. Als wir an Tag 13 wieder in See stachen, trafen wir nur wenige Stunden später auf einen weiteren Seenotfall: 65 Menschen wollten auf einem Fischerboot nach Lampedusa. Ohne entsprechende Navigationskenntnisse hatten sie die italienische Insel jedoch schon lange hinter sich gelassen und nahmen mehr oder weniger Kurs auf Libanon. Da das Boot noch fahrtüchtig war, zeigten wir ihnen den Weg und begleiteten sie in die italienische Search-and-Rescue-Zone (SAR), in der sie dann von der italienischen Küstenwache abgeborgen wurden.

Fischerboot-65-Menschen-Seenot

Am darauffolgenden Abend stießen wir auf einen tunesischen Fischer, der 35 Menschen in Seenot aus einem Schlauchboot an Bord genommen hatte und von den Behörden seit Stunden ignoriert wurde. In Kooperation mit dem Fischer besprachen wir das Vorgehen und waren gerade in Kontakt mit den italienischen Behörden, als sich wie aus dem Nichts ein Militärboot näherte. Unser Anfangsverdacht, die italienische Guardia di Finanza wäre schon vor Ort, wurde schnell verworfen, als wir die Aufschrift des Bootes lasen: Der tunesische Zoll stattete uns einen Besuch ab und näherte sich dem Fischerboot bedrohlich nahe. Als er jedoch hörte, dass die italienische Küstenwache unterwegs sei, versicherte er uns, nicht weiter zu intervenieren und lediglich mit uns auf die Küstenwache zu warten. Gegen 3 Uhr nachts war die Evakuierung der Menschen vollbracht und wir konnten uns für wenige Stunden ausruhen.

Fischerboot-Tunesischer-Zoll-Schlauchboot-RESQSHIP

Doch die Ruhe fand ein schnelles Ende, als wir gegen 8 Uhr morgens den Hilferuf eines Fischers über Funk hörten und uns zur Unterstützung auf den Weg dorthin begaben. Während wir uns der Position näherten, konnten wir auf dem Radar mitverfolgen, wie sich ein größeres Boot dem Fischer näherte und sich kurze Zeit später wieder Richtung Tunesien bewegte. Als wir am gegebenen Ort ankamen, war kein Boot mehr zu sehen. Die tunesischen Behörden waren uns zuvorgekommen und wir waren zu spät, um den Menschen zu helfen.

Drei Boote auf einmal

Keine 1,5 Stunden später trafen wir schon auf ein weiteres Boot in Seenot mit 40 Menschen an Bord, darunter viele Kinder und Frauen, die seit drei Tagen auf dem Wasser unterwegs waren. Nachdem wir das Boot über vier Stunden lang in langsamem Tempo Richtung Italien begleitet und soeben die maltesische SAR-Zone erreicht hatten, fiel uns am Horizont ein weiteres Boot ins Auge – ein schwerüberfülltes Schlauchboot mit 44 Menschen an Bord. Wir ließen unsere RHIB-Crew vorfahren, da die Nadir in Begleitung mit dem ersten Boot nur langsam vorankam. Nach einer ersten Einschätzung begleitete unser RHIB (und eine Gruppe Delfine) das Schlauchboot langsam zur Nadir. Aufgrund der einbrechenden Dunkelheit und der neuen Situation mit zwei Booten konnten wir nicht mehr weiterfahren und verbanden die Boote mit einer Leine, um sie in der Dunkelheit nicht zu verlieren.

Boot-Seenot-resqship-Nadir
2-Boote-Seenot-resqship-Nadir
3-Boote-Seenot-nachts

Kaum hatten wir uns über die neue Situation beraten, erreichte uns ein Funkruf von einem Fischer, der ganz in unserer Nähe auf ein weiteres Boot getroffen war und das Geschehen der letzten Stunden aus sicherer Entfernung verfolgt hatte. Kurze Zeit später befanden sich also 134 Menschen um die Nadir herum, verteilt auf drei Booten. Das letzte Boot war äußerst kentergefährdet, während in das zweite Boot langsam Wasser eindrang. Die maltesischen Behörden verweigerten jede Unterstützung, nicht einmal die Bitte an Italien, den Fall zu übernehmen, leiteten sie weiter. Die Situation auf den Booten wurde immer angespannter: Eltern hatten Angst um ihre Kinder und wir mussten den ersten medizinischen Notfall an Bord nehmen, eine schwangere Frau mit ihrem Kind. Unsere RHIB-Crew war im Dauereinsatz, um Kollisionen zwischen den drei Booten zu vermeiden und besonders die Situation der letzten beiden Boote zu überwachen.

Gerade als die Erschöpfung überhandzunehmen drohte, auch bei uns an Bord, nahm die italienische Küstenwache gegen halb zwei Uhr nachts überraschenderweise Kontakt zu uns auf und war nur wenige Minuten später bei uns vor Ort. In guter Zusammenarbeit per Funk und mit unserer RHIB-Crew war die Evakuierung nach einer Stunde abgeschlossen und die Menschen verabschiedeten uns mit Applaus. Die Erleichterung an Bord war immens und im Rückblick für viele von uns ein Highlight der Mission. Dieser letzte Einsatz stand ganz im Zeichen der kompletten Mission – Dauereinsatz und stundenlanges Warten, während Behörden die Verantwortung hin- und herschoben.

Für die Seenotrettung brechen neue alte Zeiten an

Doch unsere ereignisreiche Mission kennzeichnet nicht nur die Notwendigkeit unserer Präsenz auf See, sie wird außerdem die letzte Mission gewesen sein, die von der neuen italienischen Führung verschont geblieben ist. Auf See erwartet uns von nun an eine neue „alte Zeit“. Die Zukunft der zivilen Flotte wird anders sein. Wir haben nun nicht mehr nur die EU, die aktiv gegen uns arbeitet, sondern von jetzt an auch eine faschistische Regierung in Italien, die bereits mit Hochdruck daran arbeitet, den Menschen auf der Flucht wie auch uns NGOs die Hölle heiß zu machen. Und das, obwohl sich die Schlagzeilen der letzten Wochen überschlagen: Eine Tragödie nach der anderen ereignet sich momentan auf dem Mittelmeer. Boote kentern oder geraten in Brand, Kinder sterben, Babys gelten als vermisst. Es ist sehr viel mehr als ein Wettlauf gegen den Tod, denn er ist momentan so präsent wie lange nicht mehr. Darum sind die Seenotrettung und sichere Fluchtrouten jetzt wichtiger denn je. Der Kampf gegen den Faschismus und gegen die Kriminalisierung von Seenotrettung geht hiermit in eine neue Phase und wir brauchen jede Stimme, die sich mit uns erhebt und sich diesem Kampf anschließt.

Fotos: Paula Gaess, Steffen Merseburg, Friedhold Ulonska

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