von Linda Rochlitzer, Crew-Mitglied auf der Nadir auf Mission 8/2023 (September):
EU-Gelder für Tunesiens Präsident sorgen für eine Verschiebung der Fluchtroute mit vermehrten Abfahrten aus Libyen. Auch wenn das die Strecke verlängert, die unser Segelschiff Nadir zurücklegen musste, konnten wir während des achten Einsatzes rund 330 Menschen auf der Flucht zur Seite stehen.
Politische Situation auf Lampedusa und Schlechtwetterperiode
Nachdem Lampedusa nur Tage zuvor den Notstand ausgerufen hatte, da sich über 7000 Geflüchtete in dem für 400 Menschen ausgelegten Hotspot befanden, folgte eine Schlechtwetterperiode. Diese verbrachten wir als Crew mit unserem Segelschiff Nadir vor Lampedusa im Schutz der Insel. Bei so starkem Wind und Wellen machen sich ohnehin weniger Menschen auf den gefährlichen Weg über das zentrale Mittelmeer. Die Folgen der Extremsituation sollten noch deutlich zu spüren sein. Wir wurden Zeugen von gelebter Solidarität der NGOs und großem Zusammenhalt der Bevölkerung: Restaurants öffneten ihre Küchen, um die Menschen zu versorgen; NGOs schlossen sich zusammen, um die Situation mit den beschränkten Ressourcen bestmöglich abzufangen. Noch immer hängen Banner auf dem Kirchplatz, die die rechte Regierung anprangern. Als der Wind sich nach einer Woche schließlich legte, begannen wir die Patrouille vor der Küste Tunesiens. Mehr Eindrücke zur Situation auf Lampedusa in unserem letzten Newsletter.
Einen Tag nachdem sich der Wind gelegt und die See sich beruhigt hatte, entdeckten wir nachmittags ein Holzboot mit 41 Menschen an Bord. Die Menschen, darunter drei Kinder, waren zwei Tage zuvor von Libyen aus gestartet. Wir versorgten sie mit Rettungswesten und begleiteten sie, bis ein Schiff der italienischen Küstenwache sie an Bord nahm und sicher nach Lampedusa brachte.
Zuweisung des sicheren Hafens Porto Empedocle als eine politische Farce
Nur wenige Stunden später wurden wir von dem Frontex-Flugzeug Eagle 2 über die Position eines weiteren Holzboots in Seenot informiert. Als wir dort ankamen, trafen wir auf ein manövrierunfähiges Boot mit 22 Menschen, darunter 3 Frauen, 19 Männer und 8 Minderjährige. Nach einer ersten Stabilisierung war schnell klar, dass eine Weiterfahrt auf ihrem Boot bei zunehmender Windstärke höchstgefährlich wäre. Wir nahmen sie deshalb an Bord, um mit ihnen weiter in Richtung Italien zu fahren. Die Nadir kämpfte gegen die zunehmenden Wellen an und es kam immer wieder Wasser auf das Vordeck. Kurz vor der Küste Lampedusas erreichte uns die Zuweisung von Porto Empedocle als sicherer Hafen. Da die Weiterfahrt an den zugewiesenen Hafen weitere 115 Seemeilen, also 40 Stunden Fahrt, bei gleichbleibend widrigen Wetterbedingungen und somit eine hohe Belastung für die uns und unsere Gäste bedeutet hätte, entschieden wir uns zunächst, vor Lampedusa Schutz zu suchen. Auf unserem 18 Meter langen Segelschiff können Gäste nur auf dem offenen Deck Platz finden, wo sie kaum vor Wind und Wellen geschützt sind. Bei ruhiger See vor der Küste Lampedusas konnten Crew und Gäste zum ersten Mal durchatmen, wir konnten an Bord für die Menschen kochen und ihnen eine Dusche und frische sowie trockene Kleidung anbieten. Dass diese Entscheidung zur Gewährleistung der Sicherheit unserer Gäste an Bord notwendig war, erkannten am nächsten Tag auch die italienischen Behörden und ließen uns doch in Lampedusa einlaufen. Dort konnten alle an Land gehen und an Land zumindest etwas mehr Ruhe finden.
Verschiebung der Fluchtroute macht das Überqueren noch gefährlicher
Zurück im Einsatzgebiet entdeckten wir zunächst zwölf, dann weitere 20 Menschen in Seenot und konnten Ihnen bei ihrem Weg über das Mittelmeer zur Seite stehen, bis sie von den italienischen Behörden gerettet und sicher nach Lampedusa gebracht wurden.
Am selben Nachmittag erhielten wir von dem zivilen Flugzeuges Colibri 2 (Pilotes Volontaires) Koordinaten von zwei weiteren Booten. Als wir kurz darauf an der Position ankamen, trafen wir auf insgesamt 113 Menschen aus Syrien und Bangladesch. Unsere Crew versorgte alle mit Rettungswesten, Wasser und Keksen, bis die italienische Guardia di Finanza die Menschen bei Einbruch der Nacht an Bord nahm.
In den darauffolgenden zwei Tagen trafen wir im Abstand von wenigen Stunden auf drei weitere Boote mit insgesamt 132 Menschen. All waren in Libyen gestartet und hatten bereits mehrere Tage auf See hinter sich. Auf keinem der Boote waren die Menschen mit Rettungswesten ausgestattet. Überrascht hat uns vor allem die Sichtung eines Stahlbootes, eine gefährliche Konstruktion aus zusammengeschweißten Blechen mit scharfen Kanten und ohne Auftriebskörper, die man bisher vor allem auf der tunesischen Route beobachten konnte. Sollte sich dieses Modell auch für Abfahrten aus Libyen etablieren, würde dies auf der wesentlich längeren libyschen Route zu deutlich mehr Notfällen führen. Diese Art von Booten hat oft ein sehr geringes Freibord (Abstand der Bordkante zur Wasserlinie), und sinkt bei Wassereintritt innerhalb von Sekunden. Vor diesem Hintergrund ist es umso wichtiger, dass die zivilen Flotte auf dem Mittelmeer weiterhin präsent ist.
Bei dem letzten Seenotfall unseres Einsatzes war ein Schnellboot der schwedischen Küstenwache bereits auf dem Weg zu den rund 30 Menschen. Unser Angebot, mit dem Beiboot der Nadir für mögliche Zwischenfälle bei der Übernahme der Personen bereitzustehen, wurde dankend angenommen.
Die EU in der Verantwortung und Pflicht
Es ist auffällig, dass der Großteil der Boote, die wir antrafen, aus Libyen losgefahren waren. Das Geld der EU an den tunesischen Präsidenten Saied als Folge des im Juli unterzeichneten Abkommen zwischen Tunesien und der EU hat möglicherweise zu einer (teilweisen) Schließung der Route von Tunesien nach Lampedusa geführt. Dies bedeutet allerdings nicht, dass weniger Menschen den Weg über das Mittelmeer antreten, sondern führt lediglich dazu, dass sich Migrationsströme verschieben und die Menschen gefährlichere und unsicherere Wege auf sich nehmen. Zudem berichteten die Menschen, die von Libyen aufgebrochen waren, dass Sie eine längere Route entlang der Küste auf sich genommen hätten, um den Gräueltaten der sogenannten lybischen Küstenwache zu entgehen. Es ist unabdingbar, dass die EU sichere Wege in die EU etabliert.
Das Schiff der italienischen Küstenwache CP941 wurde von uns einige Male am Horizont beobachtet, hat aber in keinem der von uns assistierten Fälle geholfen. Dass ein solches Schiff nun von den italienischen Behörden zur Verfügung gestellt wurde, zeugt zwar von einem höheren Bewusstsein der vielen Menschen auf der Flucht über das Mittelmeer aber nicht von weiteren Handlungen.
All diese Entwicklungen stehen im klaren Kontrast zu den Menschenrechten und dem Recht auf Asyl, was jedem Menschen zusteht. Die Zuweisung von sicheren Häfen in weiter Entfernung sowie das bewusst geschaffene Rettungsvakuum auf dem Mittelmeer sind Europas Versuch, sich weiter abzuschotten. Dieses Vorgehen kritisieren wir scharf und stehen deshalb noch enger mit anderen zivilen Akteuren über und auf dem Mittelmeer zusammen, um dem Sterben auf dem Mittelmeer entgegenzuwirken und Europa in die Pflicht zu nehmen. Wir bedanken uns für die grenzenlose Solidarität der anderen Akteure, die uns in dieser Zeit zur Seite standen und sich andauernd mit uns für das Ankämpfen dieser untragbaren Situation solidarisieren! #civilfleet
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