Der zehnte und letzte Einsatz der Nadir im Mittelmeer im Jahr 2024 in den ersten drei Novemberwochen war von Ungewissheiten und Widrigkeiten geprägt. So war fraglich, wie das neue Abkommen zwischen Italien und Albanien die Lage verändern wird, wir beobachteten die sogenannte libysche Küstenwache beim Abfangen von Booten, hatten herausfordernde nächtliche Suchaktionen und mussten entscheiden, in welchem Gebiet wir Patrouille fahren sollten, da kaum andere zivilen Seenotrettungsboote im Einsatz waren.
Sorge über das neue Abkommen zwischen Albanien und Italien
Vor einem Jahr haben die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und ihr albanischer Amtskollege Edi Rama ein Fünfjahresabkommen unterzeichnet, dass es Italien ermöglicht, zwei Lager in dem Balkanland zu errichten. Dort sollen von der italienischen Küstenwache gerettete Geflüchtete aufgenommen und deren Asylanträge direkt bearbeitet werden, um ihnen dann die Einreise nach Italien zu gestatten – oder sie in ihre Herkunftsländer abzuschieben.
Während des Einsatzes im November 2024 waren wir mit der Nadir einer der ersten Akteure vor Ort. Zu diesem Zeitpunkt war das italienische Marineschiff Libra zum zweiten Mal im Einsatz, welches Flüchtenden in die albanischen Zentren bringen soll. Während Meloni gesagt hatte, sie sei „stolz darauf, dass Italien zu einem Vorbild geworden ist“, war die Nadir nur wenige Kilometer von der Libra entfernt und bereit, Booten in Seenot zu helfen.
Wir befürchteten, dass von den italienischen Behörden die Anweisung kommen könnte, die Geflüchteten auf das Marineschiff zu bringen. Glücklicherweise geschah das nicht und wir waren erleichtert, als am 6. November die Nachricht kam, dass die Libra das Gebiet verlasse. Weniger glücklich waren wir damit, dass das 80 Meter lange Kriegsschiff mit seiner 70-köpfigen Besatzung auf seinem Weg zur albanischen Küste acht Männer aus sogenannten ‘sicheren Herkunftsländern’ an Bord hatte.
Eine arbeitsreiche erste Woche: 102 Menschen unterstützt
In den Tagen vor dem Einsatz des Marineschiffs Libra reagierte die Nadir auf mehrere Seenotfälle, die über Alarm Phone kamen. Am Mittwoch, dem 6. November, trafen wir auf ein überfülltes Schlauchboot mit 30 Menschen an Bord. Die Crew versorgte sie mit Rettungswesten und begleitete sie bis in italienische Gewässer. Am Freitag stieß die Nadir auf ein Holzboot mit 37 Personen. Alle Menschen an Bord waren alleinstehende Männer, vor allem aus Bangladesch und Ägypten, aus Ländern also, die als sicher eingestuft werden – ein notwendiges Kriterium, um sie in die neuen Lager nach Albanien zu bringen. Wir waren daher erleichtert, dass die Libra nicht mehr im Einsatzgebiet war. Nach der Stabilisierung des Bootes brach die Nacht herein, Wind und Wellen nahmen zu und am Horizont waren Gewitter zu sehen – wir waren dankbar, dass die italienische Küstenwache schnell eintraf, alle Menschen an Bord nahm und sicher nach Lampedusa brachte.
In der Nacht von Samstag auf Sonntag erhielt die Nadir einen weiteren Notruf von Alarm Phone. Nachdem wir die Nacht durchgefahren waren, fanden wir am Sonntagmorgen ein überfülltes Holzboot mit 35 Menschen an Bord, darunter fünf Frauen, sieben Kinder – davon eines mit Behinderung – und zwei Säuglinge. Die Nadir begleitete das Boot mehr als fünf Stunden lang und erhielt dann vom MRCC Rom die Anweisung, die Menschen an Bord zu nehmen, obwohl bereits ein Schiff der italienischen Küstenwache eingetroffen war.
Bei der Evakuierung auf die Nadir zeigte ein zehnjähriges Mädchen uns den Inhalt seines Rucksacks: eine kleine weiße Katze namens Yuki. Außer dem Rucksack mit Sichtfenster für die Katze hatte das Mädchen alles mitgebracht, was sie für die Versorgung brauchte – einschließlich einer Box mit Katzenstreu. Wir waren gerührt von der Liebe und Fürsorge, mit der sich das Mädchen um Yuki kümmerte.
Ruhige See – und illegale Aktivitäten der sogenannten libyschen Küstenwache
Nach den intensiven Tagen und widrigen Wetterbedingungen der ersten Woche beruhigten sich Wind und Wellen, sodass sowohl in Tunesien als auch in Libyen ideale Bedingungen für die Abfahrt von Booten herrschten. Das ließ auch die sogenannte libysche Küstenwache aktiver werden, was unsere Crew leider aus nächster Nähe mitbekam.
Am 12. November wurden wir über einen Seenotfall informiert, der sich etwa 20 Seemeilen nördlich der libyschen SRR und damit innerhalb der maltesischen Such- und Rettungszone befand. Als wir Sichtkontakt zu dem in Seenot geratenen Boot hatten, sahen wir auch ein Schiff der sogenannten libyschen Küstenwache vor Ort. Die Nadir teilte mit, dass sie bereit war, zu helfen und die Menschen an Bord zu nehmen. Wir wurden aber ignoriert.
Bevor wir nahe genug waren, war das libysche Schiff verschwunden und hatte nur das leere Boot zurückgelassen – mit den Spuren der Menschen, die noch vor kurzem auf den Bänken gesessen hatten: ein Schuh, ein Pullover, ein Kopftuch. Wir beschlossen das Gebiet abzusuchen, um sicherzugehen, dass keine Personen ins Wasser gesprungen waren, um den schlimmen Folgen eines Pullbacks nach Libyen zu entgehen: Inhaftierung unter Missachtung grundlegender Menschenrechte, Erniedrigung, Gewalt oder gar illegale Deportation in die libysche Wüste.
Obwohl diese Praktiken umfassend dokumentiert und von Menschenrechtsaktivist:innen und internationalen Organisationen verurteilt werden, finden sie weiterhin statt. Bis Oktober 2024 sind schätzungsweise mehr als 17.500 Menschen abgefangen und nach Libyen zurückgebracht worden, allerdings dürfte diese Zahl aufgrund der unsichtbaren, nicht dokumentierten Rückführungen deutlich höher sein. Auch dies zeigt, wie wichtig es ist, vor Ort zu sein und die illegalen Handlungen im zentralen Mittelmeer zu überwachen und zu dokumentieren.
Nächtliche Suche im Mondlicht, leere Boote und Sorgen
Nur 24 Stunden nach dem illegalen Abfangen durch libysche Akteure, erhielt die Nadir Informationen über den Notruf eines Bootes in der maltesischen SRR. Wir erreichten die letzte bekannte Position des Holzbootes mit etwa 60 Personen an Bord am frühen Morgen und führten eine lange und anstrengende Suchaktion durch – unterstützt immerhin durch das helle Mondlicht. Wir fanden zwei leere Boote, von denen eines mit der Beschreibung von Alarm Phone übereinstimmte. Wir hofften, dass die Menschen von einem Schiff der italienischen Küstenwache an Bord genommen worden waren – was uns Alarm Phone später bestätigte.
Das Tageslicht brachte zwei weitere leer treibende Boote und einen weiteren Notruf in der maltesischen SRR. Die Nadir steuerte die letzte bekannte Position an. Als das Boot am Horizont sichtbar wurde, näherte sich ein Schiff mit hohem Tempo aus südlicher Richtung. Wir konnten das Schiff zunächst nicht identifizieren und fürchteten, dass es sich erneut um die sogenannte libysche Küstenwache handelte. Nach mehreren Versuchen, das Schiff anzufunken, stellte sich heraus, dass es die italienische Küstenwache war, die die Menschen an Bord nehmen und nach Lampedusa bringen würde – alle an Bord atmeten auf.
Viel Bewegung in der tunesischen SAR und ein internationales Manöver
Nachdem wir so viele Einsatzkräfte und eine so rege Aktivität der Behörden gesehen hatten, war es keine Überraschung, als wir erfuhren, dass vor der Nordküste Tunesiens ein internationales Manöver stattfand. Der Einsatz lief vom 5. bis 15. November 2024 unter dem Titel „Phoenix Express 2024“ und wurde vom United States Africa Command (AFRICOM) organisiert. Das Ziel des Manövers: die Sicherheitszusammenarbeit im Mittelmeer stärken, illegale Einwanderung bekämpfen und Such- und Rettungsaktionen verbessern. Zu den an dem Einsatz beteiligten Ländern gehörten Tunesien, Italien, die Türkei, Malta, Portugal, Algerien, Marokko und Libyen. Das Manöver dürfte auch die Anwesenheit des libyschen Marineschiffs „Ibn Auf“ in italienischen SRR-Gewässern erklären, die bei einem von Seabird2 durchgeführten Aufklärungsflug gemeldet wurde.
Wir rechneten damit, dass die vielen Einsatzkräfte in dem Gebiet das Risiko von Pullbacks erhöhen und Abfahrten aus Tunesien für die Zeit des Manövers verhindern würde. Am 15. November erfuhren wir, dass sich am 8. November trotz der Anwesenheit all dieser Akteure ein Schiffsunglück ereignet hatte. Laut einer über Alarm Phone eingegangenen und im IOM-Datenportal für vermisste Migranten veröffentlichten Mitteilung war ein Boot mit 52 Personen an Bord vor der Küste von Sfax gekentert – 37 Menschen überlebten, 15 starben oder werden vermisst.
Am selben Tag, dem 15. November 2024, ereignete sich vor der Küste von Al-Zawiya in Libyen ein weiteres tödliches Schiffsunglück. Ein Boot mit 64 Menschen aus Mali, dem Sudan und Guinea an Bord, kenterte. 50 Menschen – darunter Frauen und Kinder – werden vermisst, nur 14 überlebten, wie die IOM Libyen berichtete. Einmal mehr erlebten wir, wie das aktuelle Vorgehen der EU-Länder – durch Unterzeichnung von Abkommen, der Ausbildung von Einsatzkräften und durch die Finanzierung von Drittländern – systematisch Menschenleben kostet.
Suche zwischen Fischernetzen – und Rettung von 51 Menschen in der letzten Einsatznacht
In der letzten Einsatznacht erhielt die Nadir über Alarm Phone den Hinweis auf ein Schlauchboot in Seenot mit etwa 30 Personen an Bord. Die Menschen hatten berichtet, dass sich das Boot in Netzen verfangen hatte und manövrierunfähig war. Wir begannen mit einer Suchaktion in der Umgebung. Die gesamte Crew war an Deck und hielt Ausschau, denn überall im flachen Wasser waren Netze und Markierungsbojen.
Nach etwa anderthalbstündiger Suche fanden wir zwar nicht das Gummiboot, stießen aber gegen 3 Uhr morgens in der Dunkelheit auf ein extrem überfülltes Holzboot mit 51 Personen an Bord. Das Boot war instabil, Wasser drang ein. Etwa 15 Personen lagen im Unterdeck und waren der Gefahr einer Kohlenmonoxidvergiftung ausgesetzt. Aufgrund der gefährlichen Bedingungen beschlossen wir, alle Personen so schnell wie möglich an Bord der Nadir zu bringen. Ein junger Mann hatte Wunden an Füßen und Beinen, weil er von den libyschen Behörden vor der Abfahrt am Strand mit Gummigeschossen angegriffen worden war.
Viele der Menschen erzählten, wie dieser Abschnitt ihrer Flucht zwei Tage zuvor begonnen hatte. Sie mussten durch das Wasser waten oder zum Boot schwimmen, nachdem sie sich zuvor am Strand versteckt hatten. Wie zum Beweis sammelten sich während der Überfahrt auf dem Deck der Nadir in allen Ecken beachtliche Mengen Sand. Ein kleiner Junge erzählte, dass er bereits zum elften Mal versucht hatte, das Mittelmeer zu überqueren, während ein syrisches Ehepaar dankbar und überrascht war, dass sie es beim ersten Mal geschafft hatten. Als die Nadir in italienische Hoheitsgewässer einfuhr, half ein 16-jähriger Junge den Crewmitgliedern beim Hissen des italienischen Gastlandstanders – ein besonderer Moment für alle an Bord.
Warum es wichtig ist, weiterzumachen
Da die Nadir wegen der jährlichen Wartungs- und Werftarbeiten nun eine Pause einlegen muss, sind wir dankbar, dass andere NGOs entweder noch aktiv sind oder es in den kommenden Monaten sein werden. Es hat sich wieder gezeigt, wie wichtig es ist, vor Ort zu sein, um das Geschehen auf dem zentralen Mittelmeer zu überwachen, zu dokumentieren und Menschen auf der Flucht und in Seenot zu unterstützen. Das alles bleibt wichtig, obwohl die Zahl der Ankünfte auf dem Seeweg nach Italien im Jahr 2024 um 60 Prozent zurückgegangen ist – denn die Zahl der Todesfälle auf See ist deutlich weniger stark gesunken. Der tödlichen Grenzpolitik muss etwas entgegengesetzt werden – Solidarität muss siegen.