von Marie, Crew-Mitglied auf der Nadir auf Mission 9/2022 (November):
Während die neue faschistische Regierung in Italien rund 1000 Überlebenden auf vier zivilen Seenotrettungsschiffen über Wochen das Einlaufen in einen Hafen verweigerte, war die Nadir auf ihrer neunten Beobachtungsmission in diesem Jahr unterwegs. In acht Tagen im Such- und Rettungsgebiet konnte die Crew über 360 Menschen in elf Booten helfen, zahlreiche Notrufe weiterleiten und gemeinsam mit der italienischen Küstenwache 37 Schiffbrüchige nach dem Sinken ihres Bootes aus dem Wasser retten. Ob es alle Boote, von denen wir dort draußen hörten, geschafft haben, wissen wir nicht.
Triage auf dem Mittelmeer
Als sich die Nadir zum letzten Mal dieses Jahr auf den Weg ins Einsatzgebiet begab, waren die Vorzeichen denkbar ungünstig: eine gerade gewählte, post-faschistische Regierung in Italien, die ein hartes Durchgreifen gegenüber zivilen Seenotrettungsorganisationen angekündigt hatte – und damit die Gefahr blockiert zu werden, sollten wir Menschen an Bord nehmen.
Bereits am frühen Morgen des 2. Novembers hörten wir den ersten Funkspruch zu einem Seenotfall. Ein Fischerboot berichtete von einem überfüllten Boot mit vielen Frauen und Kindern, das manövrierunfähig trieb. Ab diesem Zeitpunkt kamen kontinuierlich ähnliche Meldungen über Funk und im Laufe des Tages sichtete das zivile Aufklärungsflugzeug Colibri 2 sieben Boote in Seenot: zu viele in einem zu großen Gebiet für die Nadir. Wir entschieden uns, Boote mit Fischerbooten in der Nähe zurückzulassen, und uns auf Boote zu konzentrieren, die allein waren. Menschen in Lebensgefahr zurückzulassen, weil andere Menschen in noch größerer Gefahr sind, ist eine brutale Entscheidung.
Am späten Nachmittag erreichten wir ein Glasfaserboot mit 15 Menschen aus Tunesien, unter ihnen auch Frauen und drei kleine Kinder. Ein weiteres Boot, mit dem sie gemeinsam unterwegs waren, fanden wir aufgrund der einbrechenden Dunkelheit nicht mehr. Wir geleiteten das erste Boot Richtung Lampedusa. Kurz vor Erreichen der italienischen Such- und Rettungszone kam die italienische Küstenwache und nahm die Menschen an Bord. Im Dunkeln konnten wir erkennen, dass auf dem Schiff bereits Dutzende gerettete Menschen waren, und wir hofften inständig, dass auch die Insassen des zweiten Bootes unter ihnen waren.
Mit zwei Knoten vor dem Sturm fliehend
Der Folgetag verlief nach einem ähnlichen Muster: viele Informationen über Boote in Seenot und die schwierige Entscheidung, welches Boot am dringendsten Hilfe braucht. Am frühen Nachmittag erreichten wir dann ein überfülltes Metallboot mit 28 Menschen, darunter sieben Frauen, ein wenige Monate altes Baby und ein vierjähriges Kind. Sie berichteten, dass sie bereits seit vier Tagen auf dem Wasser waren, zwei davon manövrierunfähig treibend. Das Trinkwasser war ebenfalls längst ausgegangen. Einige waren seekrank und alle sehr erschöpft. Und doch begannen sie voller Lebensfreude zu singen, als ihnen bewusst wurde, dass sie nun nicht mehr allein auf dem Meer waren. Wir waren zutiefst berührt von ihrem Mut und ihrem unerschütterlichen Optimismus. Ein Mann sagte, dass er seit fünf Jahren auf diesen Tag warte und er nun endlich in Europa angekommen sei.
Doch noch war Lampedusa fern. Es war möglich, den Motor des Bootes wieder zu starten und gemeinsam traten wir den Weg gen Norden an. Da das Boot überfüllt und der Motor schwach war, kam es nur quälend langsam voran. Zudem schlug in den folgenden Stunden das Wetter um und die Euphorie der Menschen wich Angst vor dem rauer werdenden Meer. Unsere E-Mails und Funksprüche an die zuständigen Behörden mit Bitte um Unterstützung wurden immer verzweifelter. Letztendlich mussten wir stehenbleiben und versuchten, das kleine Boot in den Windschatten der Nadir zu nehmen, um ein Kentern zu verhindern. Um zehn Uhr abends kam endlich die italienische Küstenwache und wir beobachteten angespannt, wie sie es trotz der kritischen Lage schafften, alle Menschen unbeschadet an Bord zu nehmen.
Auch die Nadir musste bei Lampedusa vor dem anrückenden Sturm Schutz suchen, der die nächsten Tage mit über 100 km/h und bis zu vier Meter hohen Wellen das zentrale Mittelmeer heimsuchte. Sorgenvoll dachten wir immer wieder an die vielen seeuntüchtigen Boote, die in den Tagen zuvor da draußen gewesen waren und hofften inständig, dass es alle in Sicherheit geschafft hatten.
1000 politische Geiseln auf vier zivilen Schiffen
Gleichzeitig mit uns hatte die Rise Above dieselbe Gegend, in der die Nadir vor dem aufziehenden Sturm unterwegs war, angesteuert. Allerdings nahm sie bei drei Rettungseinsätzen innerhalb kurzer Zeit 94 Schiffbrüchige an Bord und erreichte so schnell ihre Kapazitätsgrenze. Über Funk konnten wir noch hören, wie ihnen ein Hafen auf Lampedusa und später Malta verweigert wurde.
Etwas später erfuhren wir, dass die Ocean Viking, Humanity1, Geo Barents und nun auch die Rise Above mit über 1000 Menschen nach wie vor als Spielfiguren in einem kruden politischen Spiel instrumentalisiert wurden.
Während die Welt auf die sich entfaltende humanitäre Katastrophe an Bord der vier Schiffe im Stand-off blickte, kehrte die Nadir am 8. November wieder ins Einsatzgebiet zurück. Der Sturm war abgeflaut und wir hörten wieder von Booten in Seenot. Watch the Med Alarm Phone informierte uns über zwei Boote, hatten jedoch keine Position und so suchten wir die ganze Nacht ohne Erfolg und hörten erst am Morgen, dass die Boote vom Kurs abgekommen, aber gerettet worden waren.
Fünf Rettungen und ein Schiffbruch
Die folgenden dreißig Stunden sollten die intensivsten unseres ganzen Einsatzes werden. Insgesamt unterstützten wir sechs Boote. Bei allen handelte es sich um die uns bereits vertrauten Metallboote: schlecht verschweißt, Bordkante nur wenig über der Wasserline, scharfkantig – und damit eine Gefahr für Insassen und unser Rhib (Beiboot).
Während wir das erste Boot versorgten, tauchte bereits ein zweites Boot auf. Die Crew verteilte Rettungswesten, Wasser und überprüfte, ob es medizinische Notfälle gab. Da bereits ein weiteres Boot in Seenot in der Nähe gemeldet wurde, baten wir Fischer, bei den zwei Booten mit 70 Menschen zu bleiben. Wer sind wir, solche Entscheidungen zu treffen? Parallel dazu leiteten wir noch Notrufe des Aufklärungsflugzeugs Colibri 2 über Boote in Seenot an die zuständigen Behörden weiter.
Angelangt beim dritten Boot galt es noch schneller zu agieren: Einige der 37 Menschen berichteten, dass das Boot ein Leck habe. Die Priorität lag beim Verteilen von Rettungswesten und darin, Wasser aus dem Boot zu schöpfen. Glücklicherweise tauchte bald ein Schiff der italienischen Küstenwache auf, das auf unsere drängenden Bitten reagierte. Sie nahmen das Metallboot längsseits und wollten damit beginnen, die Menschen abzubergen. Doch dann sank das Boot. Einige hektische Bewegungen hatten gereicht und das Boot lief voll mit Wasser. Es versank in Sekundenschnelle in der Tiefe. Alle 37 Menschen waren plötzlich im Wasser und trieben langsam auseinander. Die verzweifelten Hilfeschreie müssen weithin hörbar gewesen sein. Der Rettungsschwimmer der Küstenwache und unsere Crew bargen schnell gemeinsam die Kinder auf unser Rhib, während die Crews der beiden Schiffe alle Rettungsmittel ausbrachten, an die sich die Menschen klammern konnten. Nach und nach zogen wir alle an Bord der zwei Schiffe. An Deck der Nadir waren letztendlich 16 Menschen – teils kaum ansprechbar in Schockstarre, zitternd, weinend und nach ihren Kindern schreiend. Wenig später übernahm das Küstenwachschiff die Geretteten von der Nadir. Alle hatten überlebt, aber ein Junge befand sich in einem kritischen Zustand. Der Kapitän des Küstenwachschiffes entschloss daraufhin, sofort nach Lampedusa zurückzukehren, um das Überleben des Jungen zu sichern. Später hörten wir, dass der Junge in ein Krankenhaus gebracht wurde, dieses aber nach zwei Tagen wieder verlassen konnte.
Kaum dass die Nadir wieder allein war, kehrten wir zu den ersten zwei Booten zurück und entdeckten zu unserer Erleichterung, dass die Boote leer und als gerettet von der Küstenwache markiert waren. Unsere Schwimmwesten lagen glücklicherweise darin. Während wir diese an Bord holten, erreichten uns über einen Fischer schon die nächsten Notrufe.
Noch zwei Mal erreichten wir Metallboote mit insgesamt 65 bis 70 Menschen an Bord und konnten sie in enger Zusammenarbeit mit der italienischen Küstenwache retten. Unsere Rhib-Crew verteilte dabei Rettungswesten und nahm mitunter Menschen kurzzeitig aus dem Boot an Bord, um ein Kentern zu verhindern. Die Küstenwache nahm daraufhin alle Menschen auf, während das Rhib auch auf Wunsch des italienischen Kapitäns auf Stand-by blieb.
„Ich glaube, mein Baby kommt“
Kurz vor Mitternacht war das fünfte Boot des Tages erfolgreich abgeborgen und wir waren nach dem Aufräumen unseres Schiffes wieder einsatzbereit. Weniger als vier Stunden später hörten wir via Funk vom nächsten Boot in Seenot: wieder eins der von uns gefürchteten Metallboote mit 36 Menschen, davon zwölf Frauen, zwei Kinder und ein wenige Monate altes Baby.
Da das Boot in der unruhigen See und bedingt durch seine Überladung zu sinken drohte, brachten wir die Frauen und die drei Kinder auf ein Raft, ein großes Schlauchboot. So begannen wir uns Richtung Lampedusa zu bewegen – das Raft ziehend und das Boot mit den verbliebenen 21 Menschen uns folgend. Rund eine Stunde später erreichte uns ein Funkspruch der Guardia di Finanza (GdF) – eine spezialisierte Polizeieinheit, die dem Finanzministerium untersteht, aber auch Rettungen auf dem Meer durchführt. Sie wollten uns an der Grenze zum italienischen Hoheitsgewässer erwarten. Rund drei Stunden später sahen wir ein Küstenwachschiff in der Ferne, das jedoch stets Abstand hielt, da es auf das GdF-Schiff warten musste.
Wir setzten auf Anweisung des Küstenwachschiffs unsere Fahrt fort, während wir uns zunehmend Sorgen um eine im neunten Monat schwangere Frau machten. „Ich glaube, mein Baby kommt“, sagte sie schließlich, während das Küstenwachschiff und das der GdF schon länger vor Ort waren, aber noch keine Rettung eingeleitet hatten. Erst gegen 10:30 Uhr durften wir mit unserem Beiboot die Geretteten zum Schiff der Küstenwache bringen, während zwei Offiziere der GdF an Bord der Nadir kamen, um den Kapitän zu befragen und unsere Papiere zu kontrollieren. Später hörten wir, dass in dieser Zeit die Fruchtblase der schwangeren Frau auf dem Küstenwachschiff platzte und sie später in ein Krankenhaus nach Sizilien ausgeflogen wurde.
Nächtliche Rettung
Die Nadir blieb allein zurück, doch waren der Crew gerade mal etwas mehr als drei Stunden zum Aufräumen und Ausruhen vergönnt, bevor das nächste Boot in Seenot gemeldet wurde. Trotz der Dunkelheit fanden wir die 40 Menschen in einem Holzboot, an dessen Rumpf die aufgesprühte Markierung „MSF 27/10“ zu lesen war. Das bedeutete, dass Insassen dieses Bootes bereits zwei Wochen zuvor von dem Schiff von Ärzte ohne Grenzen gerettet worden waren.
Mit etwas Nachhilfe konnte der Fahrer des Bootes den Motor wieder starten. Gemeinsam mit dem Boot fuhren wir abermals Richtung Lampedusa, bis ein GdF-Schiff in der Dunkelheit auftauchte, alle Menschen an Bord nahm und das leere Boot abschleppte. Unsere Schwimmwesten bekamen wir trotz Rückfragen nicht mehr.
Zwei Metallboote und nicht genügend Rettungswesten
Am Morgen des 11. Novembers hörten wir über Funk, wie der Frontex-Flieger Osprey2 ein „Mayday Relay“ weiterleitete: Zwei Boote waren in Schwierigkeiten. Und das zivile Aufklärungsflugzeug Colibri 2 erspähte sieben Boote mit Menschen auf der Flucht. Obwohl unsere Einsatzzeit zu Ende ging, unsere Rettungsmittel nahezu erschöpft waren und die Crew etwas Schlaf gut hätte gebrauchen können, kehrten wir wieder ins Einsatzgebiet zurück. Wir folgten dem Hilferuf eines Fischerbootes und stießen so auf zwei Metallboote mit 30 und 41 Menschen. Da eins der Boote gefährlich tief im Wasser lag und wir nicht mehr ausreichend Rettungswesten hatten, evakuierten wir 15 Frauen, drei Kinder und drei Väter auf das Raft und baten die zwei Metallboote uns zu folgen. Nach ein paar Stunden Fahrt kam ein italienisches Küstenwachschiff und übernahm alle Menschen in einem letzten gemeinsamen Einsatz. Die Übergabe der Geretteten verlief schon fast wie bei einem eingespielten Team mit guter Kommunikation und freundlichen Nachfragen von italienischer Seite.
Rückkehr und Rückblick
Noch waren die Aufräumarbeiten an Bord nicht beendet, als wir von einem Fischer in der Nähe von einem weiteren Boot mit 25 Menschen hörten. Doch dieser Fischer setzte sich intensiv mit der Küstenwache auf Lampedusa auseinander, so dass er nach ca. einer Stunde endlich die Zusage bekam, dass ein Schiff zur Rettung dieser Menschen kommen würde. Für uns war die Entscheidung, zu beobachten und nur einzuschreiten, wenn es wirklich nötig ist – hinzusehen, nicht wegschauen!
Schweren Herzens machten wir uns auf den Rückweg nach Malta – wohlwissend, dass das nächste zivile Seenotrettungsschiff erst in mehreren Wochen kommen wird. Die kurze Zeit im Einsatzgebiet hatte von der Crew körperlich sowie emotional alles gefordert und doch war uns stets bewusst, dass dies nichts ist an Strapazen im Vergleich zu dem, was Menschen auf der Flucht auf sich nehmen, um ein Leben in Sicherheit in Europa zu finden. Wir sind tief beeindruckt von ihrem Mut und ihrer Stärke und betrachten es als Privileg, einigen von ihnen auf ihrer gefährlichen Seite solidarisch zur Seite stehen zu dürfen.
Uns ist am Ende unseres Einsatzes sehr bewusst, dass es nicht alle sicher nach Europa geschafft haben und zukünftig nicht schaffen werden. Solange die EU ihre rassistische Abschottungspolitik weiterführt, das Menschenrecht auf Asyl nur über tödliche Routen zugänglich macht, es keine staatliche Seenotrettung gibt und den privaten Organisationen das Leben schwer gemacht wird, wird das Mittelmeer die tödlichste Grenze der Welt bleiben.
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