Stille auf der Tunesien-Route, Menschenrechtsverletzungen und Repressionen

Text: Marie, Fotos: Friedhold Ulonska; Crew-Mitglieder auf Einsatz 9/2023 (Oktober):

Im neunten Einsatz 2023 konnte die Crew der Nadir trotz schwieriger Wetterbedingungen insgesamt 450 fliehende Menschen in neun Tagen unterstützen. Zeitgleich bezeugten wir die Methoden der brutalen Abschottungspolitik Europas bei illegalen Pullbacks gegen Flüchtende und Repressionen gegen die zivile Flotte. Während Politiker:innen um das Tunesien-EU Abkommen rangen, wurden die Auswirkungen dieser Form der sogenannten Migrationskontrolle ersichtlich: Wo noch vor Kurzem unzählige Menschen vor den rassistischen Pogromen in Tunesien flohen, trafen wir nun auf kein Boot mehr, das von der tunesischen Küste abgelegt hatte.

Großes Geleit für ein Fischerboot

Nach einigen Tagen Training segelte die Nadir am 19. Oktober ins Einsatzgebiet, musste jedoch bald wegen Schlechtwetter umkehren und im Norden Lampedusas Schutz suchen – ablegende Boote schienen bei diesem Wetter unwahrscheinlich. Am Morgen des 21. Oktobers erhielten wir jedoch eine Meldung von Alarm Phone über ein Fischerboot mit 400-500 Menschen an Bord, das sich, in tunesischen Gewässern treibend, in akuter Seenot befand. Da wir das einzige einsatzbereite zivile Schiff in der Region waren, machten wir uns trotz der großen Distanz und der rauen See auf den Weg. Die Crew war angespannt: Die große Anzahl der Menschen an Bord des Kutters weckte schreckliche Erinnerungen an die Schiffsunglücke von Pylos und Cutro in diesem Jahr mit hunderten Toten.

Zu unserer Erleichterung erhielten wir unterwegs die Nachricht von Alarm Phone, dass das Boot wieder Fahrt aufgenommen hätte und vielleicht doch nur 250 Menschen an Bord wären. Am Nachmittag bestätigte das Aufklärungsflugzeug Seabird2 unseren Verdacht, dass es sich bei der Silhouette, die wir am Horizont entdeckt hatten, um das gesuchte Fischerboot handelte.

In der Zwischenzeit hatten wir von der Seenotrettungsleitstelle in Rom die klare Anweisung bekommen das Boot zu begleiten, jedoch nicht zu intervenieren. Als wir den Fischkutter erreichten, sahen wir, dass die Menschen an Bord erschöpft und seekrank waren, aber froh zu sein schienen nicht mehr allein zu sein. Gemeinsam begaben wir uns auf den Weg nach Norden, wobei das Fischerboot wegen des Seegangs heftig hin und her rollte und der Motor mehrfach ausfiel. Nach einigen Stunden stießen mehrere Schiffe der Küstenwache, Guardia di Finanza und Frontex zu uns. Insgesamt sechs Schiffe bildeten später einen großen Kreis um das Fischerboot und die Nadir, bis wir mit diesem ungewöhnlich großen Geleit kurz vor Mitternacht Lampedusa erreichten. Dort konnten alle 248 Menschen sicher an Land gehen.

In Sicherheit begleitet

Nach einem kurzen Aufenthalt auf Lampedusa, machten wir uns wieder auf den Weg ins Einsatzgebiet. In der folgenden Woche sollte die Crew auf vier weitere Boote treffen: drei Holzboote mit jeweils 58, 44 und 48 Menschen und ein Schlauchboot mit 52 Insassen, mit dabei ein erst einwöchiges Baby. Bei den Einsätzen wurden jeweils Rettungswesten und Trinkwasser verteilt, erste Hilfe geleistet und die Boote viele Stunden begleitet, bis sie von der italienischen Küstenwache aufgenommen wurden.

12_Menschen_in_Holzboot

Illegal nach Tunesien verschleppt

Leider konnte die Crew der Nadir nicht immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Am 27. Oktober suchten wir nach einem aus Libyen kommende Boot mit 80 Menschen, das von Alarm Phone gemeldet wurde. Besonders die vielen Kinder an Bord bereiteten uns große Sorgen. Plötzlich zeigten uns die gemeldeten Positionen des Bootes, dass es sich wieder Richtung Süden, also Richtung Libyen bewegte und bald im Umfeld der Ashtart Öl- und Gas Plattform war. Wir konnten nur spekulieren, ob sie die Orientierung verloren hatten oder in den bis zu 1,3 m hohen Wellen Schutz bei der weithin sichtbaren Plattform suchten. Als wir endlich ankamen, war es bereits zu spät: Wir fanden nur noch ein leeres Boot und der Offshore Versorger Maridive521 bestätigte, dass die tunesische Marine die Menschen nach Tunesien verschleppt hatte. Flüchtende, die so verschleppt werden, kommen meist ins Gefängnis oder werden mit Gewalt über Landgrenzen in Nachbarländer wie Algerien gezwungen und dort in abgeschiedenen Gegenden ohne Wasser und Essen zurückgelassen. Viele sind so bereits ums Leben gekommen, wie Recherchen u. a. von Human Rights Watch zeigen.

Geflüchtete_an_Bord_der_Nadir

Menschenrechtsverletzungen finanziert von Europa

Am Folgetag erhielten wir erneut eine Nachricht von Alarm Phone über Menschen in Seenot und initiierten die Suche nach dem von ihnen gemeldeten Boot. Als wir unterwegs durch Zufall ein anderes Boot mit 48 Menschen entdeckten, mussten wir die Suche nach dem gemeldeten Fall einstellen, da wir mit der Versorgung und Sicherung des gefundenen Boots nun gebunden waren. Die Crew von Aurora SAR kam zur Hilfe und übernahm die Suche nach dem von Alarm Phone gemeldeten Fall.

Das gesuchte Boot hatte inzwischen die Miskar Gas Plattform erreicht und die Aurora Crew wurde Zeugin, wie abermals die Menschen gestoppt und völkerrechtswidrig nach Tunesien gebracht wurden. Sowohl Libyen als auch Tunesien sind keine sicheren Länder und fliehende Menschen dorthin zu bringen, ist ein klarer Bruch des Nicht-Zurückweisungsgebotes im internationalen Recht.

Einige Tage zuvor konnte die Crew der Sea Eye 4 bezeugen, wie die sogenannte Libysche Küstenwache, eine von der EU finanzierte und ausgebildete Miliz, ein Boot mit fliehenden Menschen jagte, um sie nach Libyen zu verschleppen. Die SE4 Crew konnte rund 50 Menschen retten, einige direkt aus dem Wasser. Im Schlauchboot entdeckten sie vier leblose Körper, die sie zu sich an Bord nahmen. Zwei Überlebende gaben zudem an Freund:innen zu vermissen. Es ist unklar, ob diese bei den gefährlichen Manövern der sogenannten Küstenwache ertrunken sind.

Repressionen statt Rettungen

Während dieses Einsatzes waren viele zivile Rettungsschiffe im Einsatzgebiet: Die Ocean Viking, Humanity 1, Aita Mari, Sea Eye 4, Aurora und Trotamar III mit der Unterstützung aus der Luft von Colibri 2 und Seabird 2. Zusätzlich gab es die wertvolle Unterstützung von Land durch Alarm Phone. Die zahlenmäßig starke zivile Flotte wurde fahrlässig schlecht von den zuständigen Behörden koordiniert.  Es ist wahrscheinlich, dass mehr Menschen hätte geholfen werden können. Zudem wurde den Schiffen oft nach nur einer einzigen Rettung ein weit entfernter Hafen zugewiesen, in dem sie dann, wie die Sea Eye 4, festgesetzt wurden.

Auch gab es mehrere Boote mit Flüchtenden, von denen seit ihrem Aufbruch jede Spur fehlt. Es ist nicht klar, ob sie es aus eigener Kraft nach Lampedusa geschafft haben, von Milizen verschleppt wurden oder ertrunken sind. In einer Nacht hörten wir Schreie über Funk: „Please help us. We are Syrians. We are sinking. There is a hole in our boat.” Wir suchten daraufhin die ganze Nacht, konnten das Boot jedoch nie finden.

Mindestens 2.467 Menschen sind in diesem Jahr bereits im Mittelmeer ertrunken. Dies ist die offizielle Zahl, die Dunkelziffer liegt weit höher.

Wir dürfen uns nicht an diese andauernden Verbrechen gewöhnen, dürfen es nicht hinnehmen. Wir werden weiterhin alles tun, um Menschen auf der Flucht solidarisch zur Seite zu stehen und die tödlichen Praktiken des rassistischen Abschottungssystems Europas anzuprangern. Wir fordern sichere und legale Fluchtwege.

Fotos: RESQSHIP / Friedhold Ulonska

 

Deine Spende zählt – hilf uns zu helfen!
IBAN:   DE 18 4306 0967 2070 8145 00
BIC:   GENO DE M1 GLS
GLS Gemeinschaftsbank eG

Weitere Artikel

Geschenk gesucht? Schenke eine Spende!

Geschenk gesucht? Schenke eine Spende!

Unsere Geschenkidee für Geburtstage und besondere Menschen:Eine Freude machen, etwas Sinnvolles schenken und dabei etwas Gutes tun? Gelegenheiten gibt es viele: ob zum Geburtstag von Freunden oder Familienangehörigen, zum Valentinstag, oder nutzt ein Firmenjubiläum,...

mehr lesen
Menschenrechte kennen keine Grenzen – Sag es laut!

Menschenrechte kennen keine Grenzen – Sag es laut!

Newsletter vom 23. Februar 2024:   wir leben in unruhigen und aufwühlenden Zeiten. In Deutschland machen neue Enthüllungen zu den Plänen rechtsradikaler Gruppierungen Schlagzeilen und sorgen dafür, dass bundesweit Millionen Menschen für Demokratie, Menschenrechte,...

mehr lesen
ONBOARDING-Event am 17. März 2024

ONBOARDING-Event am 17. März 2024

Du hast Lust und Zeit, RESQSHIP zu unterstützen, weißt aber noch nicht genau, wie? Dann melde dich bei mitmachen@resqship.org für unser nächstes ONBOARDING Event am Sonntag, 17. März 2024 um 18:00 Uhr an! Zu Beginn werden wir dir einen Einblick in die Vereinsarbeit...

mehr lesen

Kontakt

Google Maps

Mit dem Laden der Karte akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von Google.
Mehr erfahren

Karte laden

RESQSHIP

Impressum

Spendenkonto: 
IBAN:   DE 18 4306 0967 2070 8145 00
BIC:   GENO DE M1 GLS
GLS Gemeinschaftsbank eG

Resqship e.V. Osterrade 4, 21031 Hamburg
© 2021 RESQSHIP