Raue See auf dem tunesischen Korridor: Nadir unterstützt 234 Menschen

 von Emma Zucchelli (deutsche Übersetzung von Piet Wübker), Crew-Mitglieder auf der Nadir auf Mission 10/2023 (November)

Während des zehnten und letzten Einsatzes des Jahres erlebte die Nadir-Crew einen Anstieg der Aktivität auf der tunesischen Route, die wochenlang fast völlig inaktiv gewesen war. Dies bedeutete auch eine zunehmende Anzahl von Eisenbooten. Die Gefahr, die von ihrer Instabilität und absoluten Seeuntauglichkeit ausgeht, zeigte sich auf tragische Weise bei einem Schiffsunglück, das sich am 20. November vor der Küste von Lampedusa ereignete und bei dem ein zweijähriges Mädchen ums Leben kam und acht Personen verschwanden und seither als vermisst gelten. In diesem Monat voller dokumentierter Pullbacks und zahlreicher Ankünfte von Flüchtenden auf Lampedusa, taten zivile Akteure ihr Bestes, um die Menschen auf der Flucht zu unterstützen und versuchten, zu gewährleisten, dass alle einen sicheren Ort erreichen.


Wenn Zusammenarbeit, Kooperation und Solidarität einen Unterschied auf dem Meer ausmachen

Bereits der erste Einsatztag erwies sich als Herausforderung für die Besatzung der Nadir. Am frühen Morgen entdeckte unsere Crew ein Fiberglasboot mit etwa 50 Personen an Bord. Dies war das erste von drei Booten, das wir an diesem Tag unterstützen konnten. Insgesamt sollten an diesem Tag mehr als 1200 Menschen auf Lampedusa ankommen – einige von ihnen autonom, viele jedoch mit Unterstützung der Behörden und ziviler Akteure.

Am frühen Nachmittag erhielten wir von den italienischen Behörden den Befehl, ein zweites Boot mit weiteren 50 Personen zu suchen, das wir kurz vor Einbruch der Dunkelheit auch fanden und in Richtung Lampedusa begleiteten. An diesem Tag hörten wir kontinuierlich Funksprüche von Fischerbooten, Behörden und erhielten Meldungen anderer ziviler Akteure, wie Watch the Med Alarm Phone, die in ständigem Kontakt miteinander standen. Gerade als dieser lange Tag sich dem Ende neigte, fanden wir uns neben einem instabilen und überfüllten Eisenboot mit etwa 40 Personen wieder. In der Dunkelheit konnten wir dieses nur durch die Reflexion unseres Scheinwerfers auf dem rostigen Rumpf ausmachen. Als Wasser in das Boot einzudringen begann und die Nacht stockfinster wurde, beschlossen wir, die Menschen an Bord der Nadir zu nehmen. Wir erreichten den uns zugewiesenen sicheren Hafen, Lampedusa, gegen 2:40 Uhr morgens, wo alle Überlebenden sicher an Land gebracht werden konnten. Wir waren erleichtert, dass wir in den ersten 24 Stunden unseres Einsatzes diesen rund 140 Menschen helfen konnten, gleichzeitig wussten wir auch, dass in dieser Nacht noch viele weitere Boote in Seenot waren, die Hilfe brauchten.

Hilfe aus der Luft und auf dem Meer, für eine sichere Ankunft an Land

Nach einem kurzen Aufenthalt auf Lampedusa machten wir uns wieder auf den Weg in das Einsatzgebiet und verbrachten den ganzen Tag von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang mit Absuchen und Beobachten des Horizonts auf dem tunesischen Korridor. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit, als wir uns bereits vorbereiteten, nach Lampedusa zurückzukehren, um Schutz vor dem herannahenden schlechten Wetter zu suchen, erhielten wir die Information von dem Flugzeug Colibri2 von Pilotes Volontaires, über ein treibendes Eisenboot in acht Seemeilen Entfernung informierte.

Wir fuhren mit voller Geschwindigkeit zur übermittelten Position und kamen kurz nach Sonnenuntergang dort an; innerhalb weniger Minuten war es stockdunkel. Die Situation, die wir vorfanden, war sehr kritisch: Die Leute schöpften mit einem Eimer Wasser aus dem Boot, um es vor dem Sinken zu bewahren. Zwei Personen fielen ins Wasser und mussten von unseren Besatzungsmitgliedern mit dem Beiboot gerettet werden. Andere Personen mussten von dem seeuntüchtigen Eisenboot auf die Nadir gebracht werden, um es zu stabilisieren.

Angesichts dieser kritischen Bedingungen forderten wir weitere Hilfe an und sahen innerhalb von 30 Minuten die italienische Küstenwache am Horizont. Wir unterstützten deren Rettungsaktion mit unserem Beiboot, indem wir die Menschen vom Eisenboot zum Schiff der Küstenwache transportierten. Dank der gemeinsamen Anstrengung aller an der Aktion Beteiligten konnten die 45 Personen sicher nach Lampedusa gebracht werden. Unsere Besatzung war besonders dankbar für das schnelle Eingreifen von Teilen der Behörden und dem gegenseitigen Respekt. Auf der Rückfahrt der Nadir nach Lampedusa reflektierte die Crew nochmal die schwierigen Situationen auf See voller Bewunderung für die Menschen, die wir getroffen hatten und die diese gefährliche Reise angetreten hatten.

La legge del mare: Fischer wissen, was Solidarität auf See bedeutet

Nachdem wir im Morgengrauen auf Lampedusa angekommen waren, nutzten wir den Tag, um uns auszuruhen und die Nadir für die letzte Fahrt des Jahres wieder startklar zu machen. Am 19. November brachen wir erneut in Richtung des tunesischen Korridors auf. Am nächsten Morgen hörten wir den Funkspruch eines Fischerboots, das auf ein in Seenot geratenes Boot getroffen war, auf dem sich viele Frauen und Kinder befanden. Wir notierten uns die Position und machten uns auf den Weg dorthin. Als wir dort ankamen, war sofort ersichtlich, dass die etwa 50 Menschen auf dem Boot in einem sehr schlechten psychischen und physischen Zustand waren. Später erzählten sie uns, dass sie vier Tage auf See verbracht hatten, drei davon ohne funktionierenden Motor und unter sehr schlechten Wetterbedingungen. Sie sagten uns auch, dass die Fischer mehr als 10 Stunden neben ihrem Boot verbracht hätten, um Hilfe zu leisten und die zuständigen Behörden um Unterstützung zu bitten. Angesichts der unmittelbaren Gefahr durch das Wetter und der Seeuntüchtigkeit des Bootes, haben wir beschlossen, die Menschen an Bord zu nehmen. Die 49 Personen, die wir an Bord der Nadir nahmen, waren total entkräftet. Viele von ihnen wiesen äußerst schmerzhafte Verbrennungen, verursacht durch das Benzin-Salzwassergemisch im Boot, und Schnittwunden an Füßen und Händen auf. Unser vierköpfiges medizinisches Team sorgte dafür, dass die Menschen sich abduschen und trockene Kleidung anziehen konnten und eine medizinische Grund- und Wundversorgung erhielten. Während der anschließenden zehnstündigen Fahrt nach Lampedusa erfuhren wir, dass diese Gruppe von Menschen gemeinsam aus Guinea-Conakry angereist war und bereits gemeinsam durch die Sahara gelaufen war. Es war offensichtlich, dass es sich um eine sehr geeinte Gruppe von Menschen handelte. Wir können uns vorstellen, wie sie daraus Kraft und Mut für den langen und entbehrungsreichen Weg geschöpft haben.

 

Gegen 22:00 Uhr kamen wir schließlich auf Lampedusa an, wo deutlich wurde wie erschöpft und körperlich geschwächt die Menschen waren, als sie versuchten an Land zu gehen. Viele hatten Mühe, den Schritt von der Nadir auf den Anleger zu machen, und einige mussten von den Mitarbeiter:innen des Roten Kreuzes begleitet werden. Eine Frau brach fast zusammen und wir mussten sie von der Nadir tragen.

Heute haben wir wieder einmal gesehen, wie Solidarität auf See etwas bewirken kann. Die Beharrlichkeit der Fischer und ihre ständigen Funksprüche haben wahrscheinlich den 49 Menschen das Leben gerettet. Als Besatzung sind wir dankbar, dass wir rechtzeitig angekommen sind und wir bewundern das Durchhaltevermögen der Menschen, die wir getroffen haben und die vier Tage auf dem offen Meer verbracht haben. Wir sind dankbar, dass es uns gelungen ist, den Überlebenden die sofortige Nothilfe zukommen zu lassen, die sie dringend benötigten.

Während wir damit beschäftigt waren, die Überlebenden an Bord während der langen Fahrt nach Lampedusa zu versorgen, war uns nicht bewusst, was direkt vor der Küste Lampedusas geschah. Unweit der Insel ereignete sich zur gleichen Zeit eine weitere Tragödie. Später erhielten wir die erschütternde Nachricht, dass ein Eisenboot Schiffbruch erlitten hatte, bei dem ein zweijähriges Mädchen ums Leben kam und acht Personen verschwanden, die weiterhin als vermisst gelten. 43 Menschen wurden von der Küstenwache gerettet, zwei Jungen von örtlichen Fischern. 

Ein starker Akt der Solidarität von Fischern aus der Region. Erst vor zwei Monat, nachdem Tausende von Menschen innerhalb weniger Tage die Insel erreicht hatten, gab es viele Berichte über Einheimische, die ihre Türen und Küchen für die Überlebenden öffneten. Es zirkulierten Videos die Menschen zeigten, die auf den großen Plätzen zusammen tanzten.

 

Es ist diese Solidarität, die uns inspiriert. Wir werden so lange weiterfahren, wie es erforderlich ist. In der Hoffnung, dass es eines Tages nicht mehr notwendig sein wird, dass wir dort draußen beobachten, dokumentieren und helfen müssen, stattdessen die Menschen auf der Flucht von den zuständigen Behörden unterstützt werden und legale und sichere Fluchtrouten eistieren. Bis zum Frühjahr werden wir die Segel der Nadir für die Winterwerftarbeiten vorübergehend streichen – beruhigt durch die Tatsache, dass andere zivile Schiffe einsatzbereit sein werden – und sicherstellen, dass die Nadir wieder bereit ist, um im Frühling für die Rotation #1/2024 in See zu stechen.

 

Übersetzung und Foto Nr. 1 von Piet Wübker, Crew-Mitglieder auf Einsatz 10/2023 (November)

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