Einsatzbericht 6 – 2025 (19.7.–9.8.2025), verfasst von Paula Gaess, Crewmitglied
Die sechste Crew der Nadir begann ihren Einsatz unter außergewöhnlichen Umständen. Erst nach dem Ende der politisch motivierten Festsetzung durfte das Schiff den Hafen von Lampedusa verlassen. Auf See traf die Besatzung zweimal auf Menschen in akuter Not. Einmal mussten Überlebende direkt aus dem Wasser gerettet werden. Diese Begegnungen offenbarten die enorme Widerstandskraft der Geretteten sowie die lebensbedrohlichen Gefahren, die sie ertragen hatten. Neben der Erleichterung über die Rettung bleibt vor allem die Trauer um die vier Menschen, die bis heute vermisst werden.
Auch der sechste Einsatz der NADIR startete anders als geplant. Die italienische Regierung hatte das Segelschiff zwei Wochen zuvor unter fadenscheinigen Anschuldigungen festgesetzt. Zum zweiten Mal innerhalb eines Monats durfte die NADIR den Hafen von Lampedusa für 20 Tage nicht verlassen. Aufgrund der Festsetzung waren wir noch eine Woche am Auslaufen gehindert. Während wir uns in intensiven Trainings auf den Einsatz vorbereiteten, gab es auf dem Meer zahlreiche Notlagen. Über Funk gingen die Notrufe ein, jeden Tag erreichten Menschen auf der Flucht die kleine italienische Insel.
Gleichzeitig erreichten uns weitere schlechte Nachrichten – das Segelschiff DAKINI, wie auch die AURORA von SEA-WATCH, die in einem gemeinsamen Einsatz 70 Menschen unterstützt hatten, wurden ebenfalls von den italienischen Behörden festgesetzt. Drei zivile Seenotrettungsschiffe lagen somit im Hafen Lampedusas, hörten den Notrufen auf dem Meer zu und konnten nichts tun, außer den Ankommenden zuzuwinken.

Unsere Festsetzung endete in der Nacht auf den 26. Juli. Kurz nach Mitternacht setzte jedoch der Mittelmeer-Wind Mistral Kurs auf die Küste Libyens und wühlte das Mittelmeer so sehr auf, dass wir gezwungen waren, weitere vier Tage im Hafen von Lampedusa Schutz zu suchen. Als wir am Mittwoch, den 30. Juli, endlich auslaufen konnten, hatte sich das Meer noch nicht beruhigt. Der Rest unseres Einsatzes war von hohen Wellen und Wind geprägt.
Handelsschiff rettet 97 Menschen – Europa schaut weg
Da uns keine weiteren Notfälle bekannt waren, auf die wir hätten reagieren können, nahmen wir Kurs auf einen Brennpunkt dieser Tage auf dem zentralen Mittelmeer. Das Handelsschiff PORT FUKUOKA hatte am Tag zuvor 97 Menschen aus akuter Seenot gerettet. Dabei kenterte das Boot, zwei Kinder starben und eine weitere Person wird vermisst. Während sich die Besatzung der PORT FUKUOKA bestmöglich um die Überlebenden kümmerte, wurden wir Zeug:innen, wie sich die staatliche Akteure auf dem Mittelmeer ihrer Verantwortung entziehen: Als wir am Donnerstagmorgen vor Ort eintrafen, wartete das Handelsschiff bereits seit über 48 Stunden auf Koordinierung durch die Seenotleitstellen. Doch weder die maltesische Rettungsleitstelle (RCC) noch das italienische MRCC (Maritime Rescue Coordination Centre) nahmen sich der Situation des Handelsschiffs an. Gegen 6 Uhr morgens erreichte ein Militärschiff der sogenannten libyschen Küstenwache das Schiff und forderte es aggressiv auf, die sogenannte libysche Such- und Rettungsregion zu verlassen.

Auch wir und die TROTAMARIII des COMPASS COLLECTIVE, die seit Tagen an der Seite des Handelsschiffes ausharrte, wurden aufgefordert, sofort zu verschwinden. Gemeinsam machten wir uns auf den Weg Richtung Norden. Als an Bord einer hochschwangeren Frau die Fruchtblase platzte, genehmigte die italienische Regierung am Donnerstagabend die medizinische Evakuierung von zwei Schwangeren. Die verbleibenden 95 Menschen konnten einen Tag später im sizilianischen Pozzallo an Land gehen.
Sechs Tage auf einem Eisenboot, dem Sturm ausgeliefert
Wir verließen das Handelsschiff bereits Donnerstagmittag in dem Wissen, dass sowohl die TROTAMARIII als auch die OCEAN VIKING von SOS MÉDITERRANÉE dem Schiff weiter beistehen würden. Nur kurze Zeit später informierte uns das Aufklärungsflugzeug SEABIRD2 über einen Seenotfall, der unweit von uns Hilfe benötigte. Eine Stunde später fanden wir das Eisenboot, das gefährlich über die weiterhin hohen Wellen schaukelte. An Bord befanden sich 36 Menschen, darunter zwei schwangere Frauen, zwei Babys und ein Kleinkind von fünf Jahren. Wir verteilten wie gewohnt Rettungswesten und Trinkwasser und erfuhren von den Flüchtenden, dass sie bereits seit sechs Tagen auf See waren. Sie waren am Tag vor dem Wetterumschwung aus Tunesien losgefahren – ein entscheidender Grund für uns, die Menschen umgehend auf die NADIR zu evakuieren.

Während der Evakuierung erkannten wir bereits den erschöpften Zustand der Menschen. Die meisten litten unter Dehydrierung, fast alle hatten chemische Brandwunden, verursacht durch das Salzwasser-Benzin-Gemisch, in dem sie sechs Tage lang ausgeharrt hatten. Auch den Babys waren Verbrennungen am ganzen Körper widerfahren. Unser medizinisches Team hatte alle Hände voll zu tun. Nachdem die Rettung abgeschlossen war, baten uns die Menschen, das Meer nach Vermissten abzusuchen. Sie berichteten, dass am selben Morgen 16 Menschen über Bord gegangen seien, um das Boot in Richtung Norden zu ziehen, dabei jedoch vom Boot weggetrieben wurden. Da der Motor bereits seit Tagen ausgefallen war, seien sie eigenen Angaben zufolge vom Sturm rund 40 Seemeilen nach Süden getrieben, in Richtung Libyen. Wir informierten die Rettungsleitstellen sowie SEABIRD2 und die TROTAMARIII über die Aussagen der Überlebenden.
Wiedersehen auf offener See – zwischen Freude und Trauer
Keine halbe Stunde nachdem wir von den 16 Vermissten erfahren hatten, wurde es unruhig an Bord der NADIR. Plötzlich riefen die Überlebenden im Bug: „Menschen im Wasser!“ Die NADIR steuerte geradewegs auf mehrere Menschen zu, die in den Wellen trieben. Es handelte sich um die Vermissten desselben Bootes. Wir warfen den Menschen lebensrettendes Equipment zu und ließen unser Beiboot zu Wasser, um sie aus dem Meer zu ziehen. Sie hatten sich über eine große Fläche im Wasser verteilt und wir sammelten zunächst diejenigen ein, die sich am weitesten von der NADIR entfernt befanden. Einige schafften es aus eigener Kraft, die NADIR zu erreichen, und wurden direkt an Bord genommen. Zwölf Menschen konnten wir aus dem Wasser retten. Eine Person war bereits vorher ertrunken, wie uns die Überlebenden berichteten, drei weitere werden bis heute vermisst. Die Szenen von Freude und Trauer, die sich nach der Rettung an Bord der NADIR abspielten, haben sich tief bei uns eingeprägt. Die Überlebenden hatten nicht mehr daran geglaubt, ihre Wegbegleiter jemals wiederzusehen.
Ein Teil unseres sechsten Einsatzes wurde von dem unabhängigen Journalisten Adrian Kriesch begleitet. Seine Beiträge über den Einsatz sind bislang bei ProSieben/Sat1, dem WDR und der Deutsche Wellen erschienen.
Vergebliche Suche nach Vermissten
Über eine Stunde suchten wir gemeinsam mit der TROTAMARIII nach den vermissten Menschen, doch leider ohne Erfolg. Gleichzeitig bereiteten uns vor allem die beiden schwangeren Frauen große Sorgen. Während eine seit einem Tag keine Kindsbewegungen mehr gespürt hatte, litt die andere unter starken Schmerzen. Wir baten die italienischen Behörden um eine medizinische Notevakuierung. Während wir auf eine Antwort warteten und weiter durch die Wellen Richtung Norden fuhren, kümmerte sich die gesamte Crew um die Überlebenden. Wir kochten warmes Essen, ermöglichten ihnen zu duschen und versorgten besonders diejenigen, die am stärksten unter Verbrennungen litten. Nach Mitternacht erreichte uns schließlich ein Schiff der italienischen Küstenwache und nahm zehn Menschen an Bord, darunter die schwangeren Frauen, die Babys und das Kleinkind sowie weitere medizinische Notfälle. Sie wurden auf schnellstem Weg nach Lampedusa gebracht.
Die NADIR erreichte die Insel erst am nächsten Morgen. Durchgeschüttelt von den Wellen der vergangenen Nacht konnten die Menschen nach sieben Tagen auf See endlich italienischen Boden betreten. Mit großem Respekt vor dem, was diese 48 Menschen hinter sich gebracht hatten, verabschiedeten wir uns von ihnen.

Wind, Welle und das endlose Suchen
Auch bei uns hatte diese Nacht Spuren hinterlassen. Nach einer kurzen Ruhephase verließen wir Lampedusa am nächsten Morgen. Was folgte, gehört ebenfalls zur Realität auf dem Mittelmeer. Während Wind und Welle erneut zunahmen, erreichten uns nur vereinzelt Meldungen über Boote in Seenot. Am Morgen des 4. August stießen wir nach stundenlanger Suche schließlich auf ein Schlauchboot, das bereits stark Luft verloren hatte. Kurz zuvor jedoch hatte die italienische Küstenwache die circa 50 Menschen an Bord aufgenommen.
Am selben Tag meldete ALARM PHONE ein weiteres Boot in Seenot, das von der tunesischen Küste gestartet war. Gemeinsam mit SEABIRD2 suchten wir erneut stundenlang, doch diesmal ohne Erfolg. Was mit den 54 Menschen geschehen ist, bleibt ungewiss. Dass es überhaupt so weit kommen kann, ist Ausdruck eines Systems, das Verantwortung bewusst verweigert: Die fehlende staatliche Koordination von Seenotfällen und die Abwesenheit sicherer Fluchtwege machen solche Situationen nicht zur Ausnahme, sondern zur täglichen Realität an Europas Außengrenzen.
26 Menschen trotzen den hohen Wellen auf einem Schlauchboot
Es dauerte eine ganze Woche seit dem letzten Einsatz, bis ein Crewmitglied am Morgen des 6. August mit dem Fernglas ein Schlauchboot sichtete, das von den Wellen teils verdeckt war und immer nur für einen Moment auf einem Wellenkamm aufblitzte. 26 Menschen nahmen Kurs auf Lampedusa. Sie waren zwei Tage zuvor von Sabratha, Libyen, aufgebrochen. Es fehlte jegliche Rettungsausrüstung und sie kämpften gegen zwei Meter hohe Kreuzwellen. Wir verteilten Rettungswesten und -decken, Trinkwasser und Cracker und begleiteten die Flüchtenden. Während unser Beiboot dauerhaft an der Seite des Schlauchbootes blieb, drängten wir die zuständigen Behörden, ein Küstenwachschiff zu entsenden, um die Menschen auf schnellstem Wege nach Lampedusa zu bringen. Erst nach sechs Stunden nahm die italienische Küstenwache die Menschen schließlich an Bord.

Der politische Gegenwind bleibt spürbar – auf Kosten von Menschenleben
Dieser Einsatz sollte das Ende unserer Zeit im Einsatzgebiet markieren. Doch bevor wir den Heimweg antreten konnten, wurden wir erneut nach Lampedusa beordert. Teil der neuen Repression ist es, dass wir nach jedem Einsatz persönlich vor Ort einen ausführlichen Bericht über den Seenotfall abgeben müssen. Moderne Kommunikationswege wie E-Mail bleiben uns verwehrt.
Am selben Tag erreichte uns die erfreuliche Nachricht, dass sowohl die DAKINI als auch die AURORA frühzeitig freikamen, denn die Begründungen für ihre Festsetzungen hatten sich juristisch als unzureichend erwiesen. Doch noch während diese Meldung Erleichterung brachte, setzte die italienische Regierung als Antwort erstmals ein Aufklärungsflugzeug, die SEABIRD1, fest.
Diese neue Repressionswelle ist ein politisches Signal und reine Schikane: Giorgia Meloni versucht mit aller Kraft zu demonstrieren, dass sie das ›Problem‹ Migration im Griff hat – verkennt jedoch, dass die individuelle Entscheidung zur Flucht tatsächlich nicht in ihrer Hand liegt und schon gar nicht davon abhängt, ob Schiffe oder Flugzeuge festgesetzt sind.
So ging ein facettenreicher Einsatz zu Ende. Am späten Abend des 7. August erreichte die NADIR schließlich wieder Malta. Nach zweieinhalb Monaten und zwei Festsetzungen konnten wir erleichtert wieder in unseren Heimathafen einlaufen.
Bildrechte: Paula Gaess | RESQSHIP e.V., Isabell Köppl (2. Bild)