Zwischen dramatischen Rettungen und Suchpatrouillen – Lage im Mittelmeer bleibt unkalkulierbar

Von Stefen Seyfert, Crewmitglied auf der Nadir bei Einsatz 04/2024; Fotos: Friedhold Ulonska, Steffen Merseburg, Stefen Seyfert 

Im Juli konnte die Crew der Nadir im vierten Hilfseinsatz 2024 sechs Booten in Seenot beistehen. Alle 264 Menschen haben ihre gefährliche Flucht über das Meer überlebt. Die Abläufe zeigten, dass man die Situationen trotz aller Erfahrungswerte nie präzise vorhersehen kann. In einem Fall kam die Nadir gerade noch rechtzeitig, als 21 Menschen bereits im Wasser trieben, nachdem ihr Boot untergegangen war. 

Auch nach Jahren der zivilen Seenotrettung lässt sich feststellen, dass jeder Einsatz anders ist. Auf der einen Seite kann RESQSHIP dankbar sein, Menschen in Notlagen unterstützen zu können. Auf der anderen, tragischen Seite jedoch bleibt die gesamte Situation frustrierend, wenn man bedenkt, dass das Leid der Menschen weiter an der Tagesordnung ist und es manchmal vom Zufall abhängt, ob man rechtzeitig vor Ort ist. Mit den Berichten über die Einsätze der Nadir wollen wir immer wieder auf diese schlimme Lage für Flüchtende im Mittelmeer hinweisen und fordern politische Lösungen, um die Menschenrechte zu achten und die Situation nachhaltig zu verbessern. 

 

Schlauchboot Mit Menschen auf Meer

4 Boote an 3 Tagen – Kaltstart im Einsatzgebiet 

Witterungsbedingt liefen wir mit drei Tagen Verzögerung zum vierten Einsatz der Nadir im Jahr 2024 aus. Als wir kurz nach Mitternacht gerade Lampedusa passierten und damit im Einsatzgebiet angelangten, ging eine erste Notmeldung von Alarmphone ein. Immer wieder rufen Menschen auf der Flucht diese Notfallnummer an und bitten um Hilfe. Dank der von Alarmphone weitergeleiteten Positionsangaben konnten wir das Boot am Morgen finden. Es handelte sich um ein graues Schlauchboot mit 33 Menschen, darunter 4 Kinder, 2 Frauen und 27 Männer, die 2 Tage zuvor in Libyen aufgebrochen waren. Wir versorgten sie mit Rettungsmitteln, wie beispielsweise Rettungswesten und –decken, sowie mit Trinkwasser und begleiteten sie mit der Nadir auf ihrem Kurs Richtung Lampedusa. Am Mittag kam uns ein Schiff der italienischen Guardia di Finanza entgegen und brachte die Menschen sicher an Land. 

Raft-Boote, Tender im Vordergrund

Hohe Sink- und Kentergefahr – Einsatz von Raft-Booten zur Stabilisierung 

Am darauffolgenden Tag wurde erneut ein Schlauchboot mit Menschen auf der Flucht in einer Notlage von Alarmphone gemeldet. Bei unserer Ankunft mit der Nadir hatten die Luftkammern des Schlauchboots bereits viel Luft verloren. Durch die Instabilität waren die 60 Menschen unruhig, zwei von ihnen fielen kurzzeitig ins Wasser. Voller Sorge hielten sie der anfahrenden Tender-Crew ein Baby entgegen und baten, es zuerst zu evakuieren. An die übrigen Personen verteilten wir zügig Rettungswesten. Um das Schlauchboot zu entlasten und ein weiteres Absinken zu verhindern, setzten wir zwei Raft-Boote ein und evakuierten 22 Menschen auf sie, was die Lage spürbar stabilisierte. Die Sea-Eye 4, ein großes Rettungsschiff der zivilen Flotte, kam wenig später zur Unterstützung und nahm alle Menschen sicher an Bord. 

Zwischenzeitlich ist eine weitere Notmeldung von Alarmphone eingegangen. Dank der übermittelten Positionsangaben und einer neuen Wärmebildkamera an Bord der Nadir fanden wir mitten in der dunklen und etwas nebligen Nacht das gemeldete Holzboot mit 59 Menschen an Bord. Es hatte eine enorme Schräglage zur Backbordseite hin, so dass bereits Wasser eindrang und das Boot zu kentern drohte. Aufgrund dessen setzten wir erneut die beiden Raft-Boote ein und evakuierten 23 Menschen hierauf, was die Situation vorerst entschärfte und die Menschen beruhigte. Im Morgengrauen kam die Sea-Eye 4 ein weiteres Mal zur Unterstützung und übernahm alle 59 Menschen sicher. 

Damit begann erst der dritte Tag im Einsatzgebiet. Während wir in der Crew nach dem nächtlichen Einsatz abwechselnd etwas Schlaf nachholten, entdeckte die Wache ein kleines Holzboot, welches auf die Nadir zusteuerte und um Hilfe bat. 31 Menschen, darunter 1 Kind, befanden sich auf engem Raum und wurden von uns mit Rettungsmitteln und Trinkwasser versorgt. Wir begleiteten das Boot über acht Stunden auf der Route in Richtung Lampedusa, bis in der Nacht die italienische Guardia di Finanza alle Menschen aufnahm. 

Holzbott wird abgeschleppt durch NADIR

Suchpatrouillen und leere Boote bei überwiegend ruhiger Wetterlage 

Nach diesem intensiven Beginn im Einsatzgebiet folgten nun mehrere Tage, an denen wir bei überwiegend ruhigen Wetterbedingungen bereit waren und mit der Nadir patrouillierten, um die Lage zu beobachten und mögliche Seenotfälle auffinden zu können. Dabei wurde auch die Drohne von Searchwing eingesetzt und mit ihr die Umgebung abgesucht. In diesen Tagen fanden wir nur leere Boote, die verlassen auf oder an der Wasseroberfläche trieben. Auf die Entfernung war oft nicht zu erkennen, ob sich noch Menschen darin befanden, so dass wir dies überprüften.  

Diese leeren Boote machen nachdenklich. Oftmals sind vereinzelte Habseligkeiten das einzige Zeichen, dass hier mal eine Gruppe von Menschen war. Was ist hier vorgefallen? Konnte allen geholfen werden? Wo sind die Reisenden gelandet? Wurden sie an unsichere Orte zurückgeführt? Wie konnten es viele Menschen nur in solch einem kleinen und unsicheren Boot über Stunden oder Tage auf See aushalten? Diese Boote sind ein Beleg dafür, dass die Welt hier nicht in Ordnung ist. 

Kerzen zum Gedenken an auf der Flucht gestorbene Menschen

Dramatischer Nachteinsatz: 21 Menschen kämpfen im Wasser um ihr Leben 

Aufgrund einer Meldung von Alarmphone begannen wir die Suche nach einem Fiberglass-Boot mit 21 Menschen. Aus den Positionsangaben ging hervor, dass sich das Boot noch bewegte. Doch später brach der Kontakt von Alarmphone zum Boot ab. Wir berechneten die mögliche Route und konnten gegen zwei Uhr nachts ein kleines Licht in der Dunkelheit erkennen. Beim Annähern wurde klar: Hier gab es kein Boot mehr. Es war bereits gesunken, alle Menschen trieben im Wasser, panisch riefen sie „Help“. Einer von ihnen hielt sein Handy hoch aus dem Wasser und erzeugte damit das Licht. Dieses kleine Licht machte den Unterschied und half in der Nacht bei der Rettung der Leben der Menschen.  

Wir nutzten die verfügbaren Rettungsmittel und brachten sie mit dem Tender zu den im Wasser Treibenden. Einige waren bereits so stark geschwächt, dass sie nur mit Hilfe auf die Nadir gelangten. Auf die Frage, wie viele sich auf dem Boot befanden, antworteten sie einheitlich: 21. Beim Durchzählen wurde klar, dass wir 21 Menschen aus dem Wasser an Bord der Nadir gerettet haben. Dennoch suchte unsere Tender-Crew zur Sicherheit nochmals die Umgebung ab, ohne weitere Personen zu finden. Es war für alle Beteiligten ein schwer zu realisierender und gleichzeitig extrem erleichternder Moment, in dem feststand: Alle haben es geschafft. 

Evakuierte Menschen an Bord der Nadir

Der nächste Notfall in unmittelbarer Nähe – alle gelangen sicher nach Lampedusa 

Auf der Nadir erhielten die Menschen trockene Kleidung, eine Dusche und medizinische Behandlung. Teilweise hatten sie zuvor Verbrennungen durch das Gemisch aus ausgetretenem Benzin und Salzwasser in ihrem Boot erlitten oder waren geschwächt vom Überlebenskampf im Wasser. Während wir unsere Gäste an Bord der Nadir in Abstimmung mit den italienischen Behörden in Richtung des nächsten sicheren Hafens in Lampedusa brachten, meldete Alarmphone einen weiteren Seenotfall in unmittelbarer Nähe. Nach Absprache mit den zuständigen Behörden nahmen wir Kurs auf diese Position und fanden 60 Menschen in einem überfüllten Fiberglass-Boot. Wir statteten sie mit Rettungswesten aus und begleiteten sie so lange, bis die italienische Küstenwache zur Unterstützung eintraf und alle sicher an Bord nehmen konnte. Zusätzlich wurden sechs Menschen aus dem Nachteinsatz aus medizinischen Gründen von der Nadir evakuiert. Die übrigen 15 Gäste brachten wir selbst sicher nach Lampedusa. 

 

Zum Abschluss des Einsatzes herrschen Erleichterung und Dankbarkeit vor, weil wir als Crew den Menschen rechtzeitig helfen konnten und sie sich nun in Sicherheit befinden. Doch allen ist klar, dass es hätte anders kommen können. Die anhaltende Notlage im Mittelmeer darf kein Dauerzustand bleiben. Leben und Tod flüchtender Menschen dürfen nicht davon abhängen, ob ein kleines Licht in der Nacht rechtzeitig entdeckt wird. 

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