Fotos und Text von Mirjam Reininger, Crewmitglied auf der Nadir im September 2024
Der September 2024 war für die Crew der Nadir von vielen Nachteinsätzen geprägt. Insgesamt konnten 446 Menschen, darunter mehrere Kleinkinder und Babys, auf 11 Booten in der Dunkelheit gefunden werden. Alle Flüchtenden überlebten ihre gefährliche Überfahrt nach Italien. Zwei Einschüchterungsversuche der sogenannten libyschen Küstenwache zwangen die Nadir, ihren Kurs zu ändern.
In der Nacht vom 20. auf den 21. September fanden wir das erste Boot in Seenot. Wir wussten von der NGO Alarm Phone, dass es ganz in unserer Nähe sein musste und doch brauchten wir Stunden für die Suche. Jedes kleine Licht am Horizont barg neue Hoffnung, die Menschen zu finden. Mit Radar und Wärmebildkamera versuchten wir auszugleichen, wozu unsere Augen nicht mehr im Stande waren, bis wir endlich die Umrisse des schwarzen Schlauchbootes ausmachen konnten. An Bord befanden sich 37 Menschen, darunter zwei kleine Mädchen mit ihren Müttern. Wir nahmen die Menschen an Bord und brachten sie nach Lampedusa.
Wir suchten so lange nach diesem Boot, dass wir uns fragen mussten, ob wir bei unserer Suche an ihm vorbei gefahren sind und wenn ja, warum die Menschen nicht auf sich aufmerksam gemacht hatten. Ein paar Tage später lernten wir einen potentiellen Grund dafür – die sogenannte libysche Küstenwache – persönlich kennen.
Sowohl am 23. September als auch am 01. Oktober trafen wir auf die sogenannte libysche Küstenwache. Bei der ersten Begegnung befanden wir uns in der sogenannten libyschen Search and Rescue Zone (SAR), wo wir etwas früher vergeblich nach einem Seenotfall gesucht hatten. Das Schiff der sogenannten Küstenwache kam auf uns zu und gab uns via Funk („Get out! Get out!“) zu verstehen, dass wir in diesem Gebiet unerwünscht sind. Wir befanden uns ca. 60nm vor der libyschen Küste, also weit in internationalen Gewässern, in denen sich jedes Schiff der Erde aufhalten darf. Das libysche Schiff schien den Unterschied zwischen internationalen und territorialen Hoheitsgewässern nicht zu kennen. Auf unsere Versuche mit ihnen über die rechtliche Situation zu sprechen, reagierten sie nur erneut mit „Get out!“ Rufen. Wir entschieden uns, zu deeskalieren und setzen Kurs nach Norden. Sie verfolgten uns ein paar Meilen, dann drehten sie ab. Wir vermuten, dass es das gleiche Schiff war, dass später tief in der maltesischen SAR Zone 54 Menschen auf der Flucht von einem Boot zwang und nach Libyen brachte.
Unsere zweite Begegnung mit der sogenannten libyschen Küstenwache fand in der maltesischen SAR Zone statt. Nach einem langen Nachteinsatz hatten wir 78 Menschen aus zwei Booten an Bord und hielten nach einem dritten Ausschau, das wir auf unserer Strecke nach Lampedusa vermuteten. Gegen Mitternacht tauchte ein sehr helles und schnell größer werdendes Licht am Horizont auf. Aus Sorge vor Kollision versuchten wir immer wieder Funkkontakt aufzunehmen – keine Antwort.
Bald erkannten wir, dass es sich bei dem hellen Licht um einen Scheinwerfer handelte, den ein großes, graues und zunächst nicht identifizierbares Schiff auf uns richtete. Wir vermuteten, dass es sich dabei um die sogenannte libysche Küstenwache handeln würde. Dies konnten wir endgültig aber erst im Nachhinein anhand eines Vergleichs der aufgenommenen Bilder mit früheren Aufeinandertreffen bestätigen, da das Schiff während unserer nächtlichen Begegnung auf keine Form von Kommunikation reagierte. Stattdessen fuhr es bedenklich nah an uns heran, um dann abzudrehen und so vor unserem Bug langzufahren, dass wir unseren Kurs änderten. Was aus dem Boot wurde, nach dem wir Ausschau hielten, wissen wir nicht.
Einschüchterungsversuche wie dieser zeigen mit aller Deutlichkeit, dass der sogenannten libyschen Küstenwache nicht an der sicheren Überfahrt von Menschen auf der Flucht gelegen ist. Statt Menschen in Not an einen sicheren Hafen zu bringen, behindern sie NGO Schiffe und machen die lebensgefährliche Fluchtroute übers Mittelmeer noch unsicherer. Wir sind dankbar für die relative Ruhe, die die Menschen auf der Flucht an Bord der Nadir trotz dieser bedrohlichen Situation bewahren konnten.
In der Nacht vom 25. auf den 26. September folgten wir dem Mayday Relay eines Fischers, der ein Boot in seiner unmittelbaren Nähe gemeldet hatte, dessen Motor ausgefallen war. Als wir ankamen, sagte er uns, dass nur einer von zwei Motoren ausgefallen sei. Das Boot war mittlerweile schon lange außer Sichtweite. Er bot uns an, uns bei der Suche zu unterstützen, doch selbst mit seiner Hilfe und der der Astral, einem Schiff der NGO Open Arms, die von Norden aus die Suche aufnahm, konnten wir das Boot nicht finden.
Später in der Nacht fanden wir jedoch ein Schlauchboot mit 25 Personen an Bord. Als wir mit unserem Beiboot Rettungswesten verteilten, sahen wir in welch schlechtem Zustand es war. Der Motor musste mit Seilen in Position gehalten werden, um nicht ins Wasser zu fallen und einer der Schläuche hatte bereits Luft verloren. Wir entschieden uns, die Menschen an Bord zu nehmen, wo sie bald erschöpft einschliefen. Als es hell wurde und langsam Lampedusa am Horizont auftauchte, riefen die ersten Menschen ihre Verwandten und Freund:innen an – bei jedem Einsatz ein besonderer Moment.
Auch in der folgenden Nacht vom 26. auf 27. September hörten wir von einem Seenotfall. Die Dunkelheit, die während unserer Einsätze zu einer steten Begleiterin geworden war, machte die Suche schwer. Es war drei Uhr nachts, als wir die schwachen blinkenden Lichter endlich ausmachen konnten. Es waren die Handytaschenlampen von Flüchtenden auf einem weißen Fiberglas-Boot mit ungefähr 45 Menschen an Bord.
Als wir unser Beiboot ins Wasser lassen wollten, streiften unsere eigenen Taschenlampe noch etwas anderes. In einiger Tiefe entdeckten wir unter der Nadir eine dünne weiße Schnur. Wir wussten nicht, wo sie herkam und wir wussten nicht, wo sie hinführte. Was wir allerdings wussten, war, dass sie, sollte sie mit dem Fiberglas-Boot verbunden sein, dieses ins Ungleichgewicht bringen konnte, sollten wir uns mit der Nadir bewegen. Wie tief die Schnur wirklich im Wasser war, wurde uns erst bei mehreren erfolglosen Versuchen, sie mit einem Haken zu greifen, bewusst. Nach einiger Zeit, in ständigem Megaphone-Kontakt mit dem Fiberglas-Boot, das auf uns wartete, bekamen wir sie endlich zu greifen. Wir hatten uns ungewollt eine Fischerleine eingefangen, die zum Glück nur in einem großen Knäuel endete.
Noch während die Flüchtenden auf der Nadir das Boot, auf dem sie sich gerade noch befunden hatten, sinken sehen mussten, tauchte aus der Dunkelheit ein kleines schwarzes Schlauchboot auf. Wir nahmen auch diese 22 Menschen an Bord und brachten alle sicher nach Lampedusa.
Wenig später kam ein Schiff, der italienischen Küstenwache, das die Dakini bereits verständigt hatte. Alle Menschen wurden sicher an Bord des Küstenwachschiffes genommen. Es setzte Kurs auf Lampedusa, doch wir sollten ihm in dieser Nacht nicht das letzte Mal begegnet sein.
Gegen ein Uhr nachts stießen wir zufällig auf ein Boot mit 58 Menschen an Bord. Auch im Nachhinein konnten wir es keinem bekannten Notruf aus dieser Nacht zuordnen. Während wir uns dem Boot näherten sahen wir einige schwache Lichter, die sich uns langsam näherten – das dritte Boot dieser Nacht mit 24 Menschen an Bord.
Während wir Rettungswesten verteilten und die italienischen Behörden verständigten, sahen wir ein Dreieck aus Lichtpunkten über uns und den Booten kreisen. Ähnliche Drohnen hatten wir auch bei anderen Einsätzen schon bemerkt. Küstenwachschiffe aus der EU und auch Frontex dürfen Geflüchtete nicht nach Libyen zurückbringen, das wäre ein illegaler Pushback. Es gibt daher einen menschenverachtenden Trend dazu, das Mittelmeer nicht mehr mit Schiffen, sondern mit Flugzeugen und Drohnen zu überwachen, um statt Menschen zu retten Notrufe abzusetzen, auf welche dann die sogenannte libysche Küstenwache reagiert. Diese bringt die Menschen nach Libyen zurück, wo sie meist zurück in Lager verschleppt werden, in denen sie Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind und sich oft erneut freikaufen müssen. Von diesem Kreislauf aus Lager, Freikaufen, Fluchtversuch und Pull-back, berichtete uns auch ein Mann an Bord der Nadir, der sich bereits auf seinem fünften Fluchtversuch befand.
Im Fall der beiden Boote, die wir in dieser Nacht zufällig getroffen hatten, schickte die italienische Küstenwache zu unsrer Erleichterung das gleiche Küstenwachschiff zu uns, das bereits früher dem Mayday Relay der Dakini gefolgt war und noch immer die Menschen des ersten Bootes an Bord hatte. Es nahm alle Menschen auf und setzte mit nun knapp 150 Menschen an Bord erneut Kurs auf Lampedusa.
Zwei Schlauchboote und Einsatzabschluss
In der Nacht vom 01. auf den 02. Oktober hörten wir von drei Seenotfällen, die von der Seabird, einem zivilen Aufklärungsflieger der NGO Sea-Watch e. V., gemeldet wurden. Als die Dämmerung einsetzte, endeckten wir das erste Boot mit 43 Menschen an Bord am Horizont. Nach der erfolgreichen Evakuierung fanden wir auch das zweite Boot, nach dem die Trottamar III, ein anderes Schiff der zivilen Flotte, bereits suchte. Wir nahmen alle 36 Menschen auf die Nadir. Mit drei Babys an Bord setzten wir Kurs auf Lampedusa, wo wir alle sicher ans Land bringen konnten. Auf dem Weg hatten wir die bereits erwähnte zweite unangenehme Begegnung mit der sogenannten libyschen Küstenwache. Was aus dem dritten Boot wurde, wissen wir nicht.
Damit ging für uns ein intensiver Einsatzzeitraum zu Ende. Wie kräftezehrend er für die Menschen auf der Flucht gewesen ist, können wir uns vermutlich nicht vorstellen. Was bleibt, ist die Hoffnung, dass alle Boote, nach denen wir vergeblich gesucht haben, ihren Weg nach Europa unversehrt überstanden haben; die Dankbarkeit, dass wir bei keinem Einsatz Menschen im Wasser und keine sehr ernsten medizinischen Fälle hatten und schlussendlich die Wut auf ein entmenschlichendes Asylsystem, das die Abschottungspolitik der EU über das Leben von Menschen stellt. Die zivile Flotte kann nur versuchen, für einzelne Menschen einen Unterschied zu machen. Was es eigentlich bräuchte, wären legale und sichere Fluchtwege, eine antirassistische Rettungsinfrastruktur und ein Europa, das endlich beginnt, seiner Verantwortung gerecht zu werden.