von Bo* Osdrowski, Crew-Mitglied auf der NADIR auf der dritten Rotation (Juni 2024)
Im Juni findet der dritte Einsatz der Nadir im Jahr 2024 statt. Dabei sehen wir anhand der einzelnen Schicksale, was die harte Abschottungspolitik der Europäischen Union für Menschen auf der Flucht bedeutet. Wir können fünf Booten in Not zur Seite stehen und dafür sorgen, dass die Menschen an einen sicheren Ort gelangen. Jedoch erleben wir in einem Fall auch, dass wir nicht allen rechtzeitig helfen und um zehn Menschen nur noch trauern können.
20. Juni: Weltflüchtlingstag
Am Morgen des Weltflüchtlingstages, dem 20. Juni, laufen wir um 7:25 Uhr mit 47 Menschen an Bord der NADIR in den Hafen von Lampedusa ein, begleitet vom lauten Gesang der fünf nigerianischen Frauen, die die Nacht im Schutz unseres Salons verbracht haben. Auch einen Vater mit seinen drei kleinen Kindern haben wir an Bord sowie 38 überwiegend junge Männer, die unter anderem aus Nigeria, der Demokratischen Republik Kongo, Gambia und Kamerun kommen. Sie alle haben sich in dem kurzen „Gut Wetter-Fenster“ in einem ungewöhnlich kalten und vor allem windigen Juni von Libyen aus auf den Weg in eine hoffentlich bessere Zukunft gemacht. Sie entschieden sich für die aktuell tödlichste Fluchtroute der Welt über das Zentrale Mittelmeer, weil sie keine (andere) Wahl haben.
Die immer stärkere Abschottung der Festung Europa, verbunden mit der fortgesetzten Ausweitung der sogenannten europäischen Außengrenzen, lässt keine Wahl zu. Nach Libyen wird nun auch Tunesien mit Mitteln der EU zum Ausbau seiner Küstenwache gezwungen – mit der einzigen Aufgabe, Menschen auf ihrem Weg nach Europa zu stoppen und zurück nach Tunesien zu zwingen (Pullback). Berichten zufolge wurden seit Januar bereits mehr als 800 Boote von der sogenannten tunesischen Küstenwache zurück nach Tunesien verschleppt – so vermutlich auch die „people on the move“ an Bord eines Bootes, das am 15.06. in tunesischen Gewässern in Seenot geriet. Während wir mit der NADIR Kurs auf die Position nahmen, erfuhren wir von der Einsatzzentrale in Lampedusa, dass bereits je ein Boot der italienischen und der (sogenannten) tunesischen Küstenwache on scene seien. Gemäß unserer Informationen sind an diesem Tag jedoch keine Menschen nach Lampedusa gebracht worden. Tunesien aber ist kein PoS (Port of Safety)!
Evakuierung aus undichtem Schlauchboot
Die eingangs beschriebenen 47 Menschen an Bord der NADIR waren mit einem Schlauchboot unterwegs, dessen Motor bereits ausgefallen war, als wir sie mit Hilfe des Suchflugzeugs Seabird 1 in der libyschen Such- und Rettungszone (SAR) fanden. Einer der Schläuche war undicht und verlor schnell an Luft, zumal er als Sitz für einen Teil der Menschen diente. Dieses Boot vermochte sie also nicht einmal über die Hälfte der Wegstrecke zu bringen, weshalb ihnen ein Pullback durch die sogenannte libysche Küstenwache drohte. Diesen konnten wir verhindern, da wir alle 47 Menschen von dem sinkenden Boot schnellstens an Bord der NADIR bringen mussten, um sie akut vor dem Ertrinken zu bewahren.
Trotz und entgegen aller Versuche der EU, Migration zu verhindern, sind am 20. Juni viele weitere Menschen in Lampedusa angekommen – so auch 10 junge Männer aus Tunesien, die mit ihrem kleinen Holzboot kurz vor uns den sicheren Hafen von Lampedusa erreichten.
Die Festung Europa tötet
Drei Tage zuvor haben es 10 Menschen nicht geschafft – sie verloren ihr Leben im Kampf für eine bessere Zukunft. Ein neuer Bootstyp aus Libyen, der in diesem Jahr bereits mehrfach angetroffen worden ist und offensichtlich eigens für diesen Zweck der Flucht über das Meer konstruiert wird, wurde für sie zur tödlichen Falle.
Wir erreichten das Holzboot, das bereits von der Besatzung der deutschen Segelyacht Dakini gefunden und erststabilisiert worden war, in der Dunkelheit der frühen Morgenstunden. Es war so stark überfüllt, dass es schon Wasser aufgenommen und enorme Schlagseite hatte, so dass wir jederzeit mit dem Kentern des Bootes rechnen mussten. Nachdem wir die 49 Menschen vom Deck sicher an Bord der NADIR geholt hatten, prüften wir das „Unterdeck“, welches vom Deck aus nur durch eine Luke zugänglich war. Zu unserem Erschrecken fanden wir dort 12 Personen, die leblos in dem mit Wasser und Benzin gefüllten Bauch des Bootes lagen. Bei genauerer Untersuchung stellte unser medizinisches Team Lebenszeichen bei zwei von ihnen fest – und unter Einsatz aller Kräfte holte unsere Crew die beiden aus der Todesfalle heraus und brachte sie ebenfalls an Bord der NADIR, in unsere Krankenstation im Salon. Das Leben dieser zwei jungen Männer aus Syrien und Bangladesch konnten wir retten und die beiden 2,5 Stunden später gemeinsam mit den anderen 49 Überlebenden an ein Boot der Italienischen Küstenwache übergeben.
Unsere Erklärung ist, dass die giftigen Gase der ebenfalls im Unterdeck gelagerten, offenen Benzinkanister zur Bewusstlosigkeit der dort sitzenden jungen Männer geführt haben und sie in diesem Zustand im eindringenden Wasser ertrunken sind. Dieser neue Bootstyp, der Benzin-Außenmotoren hat, birgt genau dieses Risiko für alle Personen unter Deck!
Unsere Crew übernahm nach der erfolgten Evakuierung der Überlebenden durch die italienische Küstenwache die Verantwortung dafür, die 10 Leichname nach Lampedusa zu bringen, damit sie dort identifiziert und ihre Angehörigen informiert werden können. So beschlossen wir, das Boot mehr als 70 nautische Meilen nach Lampedusa zu schleppen. Ein merkwürdiges Gefühl!
Trauer- und Gedenkmomente bei der Ankunft auf Lampedusa
Von unterwegs informierten wir befreundete Gruppen und Organisationen auf Lampedusa, wie Maldusa, Airborne, Sea Watch AURORA und Mediterranean Hope, über diese besondere Ankunft. Kurz bevor wir den Hafen von Lampedusa gegen 21.00 Uhr erreichten, installierten wir auf dem Boot 10 rote Lichter und übergaben es an der Hafeneinfahrt der italienischen Küstenwache. Am Pier warteten bereits etwa 60 Menschen – neben unseren Freund*innen auch Einwohner*innen der Insel. Schweigend umarmten wir einander – verbunden in Trauer und Wut über dieses Verbrechen. Mit einem Kreis aus Kerzen und Blumen gedachten wir gemeinsam der 10 an den Außengrenzen der Festung Europa getöteten jungen Männer.
Ingo, Kapitän der NADIR, begann seine kurze Rede an die versammelten Menschen mit den Worten „Wir sind glücklich, dass wir heute die Leben von 51 Menschen retten konnten!“ – Zugleich sind wir traurig und wütend über den Tod von 10 Menschen. Diesen haben Politiker*innen zu verantworten, deren Entscheidungen dazu führen, dass Menschen sich in diese lebensbedrohliche Situation begeben. Der Tod dieser jungen Männer aus Syrien und Bangladesch war kein Unglück, sondern ist ein Verbrechen, eine Folge europäischer Politik. Die Festung Europa tötet!
People on the move
Trotz der weiter vorangetriebenen Abschottung Europas kommen Menschen über das Mittelmeer nach Europa! Innerhalb des nur knapp acht Tage dauernden „Gut Wetter-Fensters“ fanden wir zwei weitere Boote mit 61 bzw. 27 Personen an Bord und leisteten ihnen Hilfe, bevor wir am 21. Juni die Trotamar III unterstützten, die 64 Menschen innerhalb der libyschen Such- und Rettungszone (SAR) aus akuter Seenot gerettet hatte. Das kleine Segelboot mit sechs Personen in der Crew war nun selbst sehr voll und kämpfte sich durch die höher werdenden Wellen und den stärker werdenden Wind aus Nord gen Lampedusa. Gemeinsam entschieden wir, einen Teil der Gäste an Bord der NADIR zu bringen, aufgrund der hohen Wellen mussten wir dieses „Transshipment“ jedoch vorzeitig abbrechen.
Sechs Personen gelangten auf die NADIR, eine junge Frau, vier junge Männer aus Nigeria sowie ein junger Mann aus Ägypten. Um sie möglichst gut vor Wind und Welle zu schützen, brachten wir sie in unseren Salon. Die italienische Küstenwache holte wenig später alle Menschen von der Trotamar III, um sie sicher nach Lampedusa zu fahren. Aufgrund des Seegangs wurden wir gebeten, unsere Gäste selbst nach Lampedusa zu bringen, um sie nicht durch ein weiteres Transshipment zu gefährden. So fuhren wir gemeinsam mit der Trotamar III gegen die immer stärker werdenden Wellen und Winde aus Norden nach Lampedusa und erreichten den sicheren Hafen nach über 20 Stunden, wo unsere Gäste glücklich und erleichtert europäischen Boden betraten.
Solidarität auf dem Zentralen Mittelmeer
Das solidarische Zusammenwirken mit der DAKINI und der TROTAMAR III hat uns die große und wertvolle Solidarität auf dem Mittelmeer spüren lassen. Gemeinsam mit Airborne, Alarmphone sowie weiteren Gruppen und Organisationen und den Schiffen der Zivilen Flotte setzen wir der menschenverachtenden Abschottungspolitik der EU Solidarität, Mitgefühl und Menschlichkeit entgegen!
Das schlechte Wetter hat uns leider nur acht Tage in der sogenannten Area of Operation ermöglicht, in denen wir insgesamt fünf Boote, die alle in Libyen gestartet sind, finden und die „people on the move“ nach unseren Möglichkeiten unterstützen konnten.
In der Crew sind wir uns einig, dass wir alles getan haben, was wir tun konnten. Und wir sind froh darüber. Eleana, Juristin, Journalistin und unsere Fotografin an Bord, bringt ihren Frust und ihre Traurigkeit darüber zum Ausdruck, seit 20 Jahren Zeugin der Verschlechterung der europäischen Migrationspolitik zu sein: „Migration wird immer gefährlicher, es gibt immer weniger Unterstützung für Menschen auf der Flucht, die Ignoranz und das Desinteresse der Menschen wachsen.“
Genau deshalb machen wir weiter und bereiten jetzt die NADIR mit Liebe und Elan auf ihren nächsten Einsatz vor.